Das britische High Court of Justice hat letzten Donnerstag eine weitreichende Entscheidung getroffen. In seinem Urteil heißt es, "allein das Parlament" habe die Befugnis, den Brexit auszulösen, indem es "Brüssel von der Absicht des Vereinigten Königreiches unterrichtet, die EU zu verlassen". Mit anderen Worten bedeutet das: Das britische Parlament darf darüber abstimmen, wann die Regierung mit den offiziellen Verhandlungen mit Brüssel über den Brexit beginnt.
Was auf den ersten Blick nur wie eine Formalie klingt, birgt am Ende doch einiges Risikopotenzial in sich. Englands Premierministerin Theresa May hatte bislang eine Abstimmung im Parlament immer ausgeschlossen. Aus gutem Grund: Die Mehrheit der Abgeordneten in beiden Kammern gilt als Brexit-Gegner. Der juristische Zwist entzündet sich am Art. 50 des Lissaboner Vertrags. Dieser besagt unter Absatz 1:
Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
Und unter Absatz 2:
Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. […]
Theresa May beharrte stets auf der Auffassung, es sei ausschließlich Sache der Regierung, den Europäischen Rat über die Brexit-Absicht zu informieren und so den Austrittsprozess einzuleiten. Die Richter des High Court sehen das anders. Lordoberrichter Lord Thomas of Cwmgiedd stellte am Donnerstag klar, dass die Souveränität des Parlaments über allen anderen Verfassungsgrundsätzen stehe. Die Regierung habe deshalb nicht die Macht, über den Rückzug Großbritanniens aus der EU zu entscheiden.
Das Urteil zeigt auf, wie falsch die immer wieder kolportierte Ansicht ist, wonach Großbritannien über gar keine Verfassung verfüge. Die Verfassung gibt es. Sie liegt nur nicht in einem zusammengefassten, kodifizierten Dokument vor, wie dies in den meisten anderen europäischen Staaten der Fall ist. Und da Absatz 1 des Artikels 50 des Lissaboner Vertrags davon spricht, dass der Austritt eines Mitgliedstaates "im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften" erfolgen muss, sind Klagen gegen eine Austrittsprozedur am Parlament vorbei durchaus möglich.
Den Stein ins Rollen gebracht hatte unter anderem die Investmentbankerin Gina Miller mit ihrer Klage. Sie argumentierte, dass bei einer so weitreichenden Entscheidung wie dem Austritt aus der EU das Parlament nicht umgangen werden darf. Nach dem Urteil zeigte sie sich zufrieden und forderte eine "ordentliche Debatte in unserem souveränen Parlament".
Auch in Schottland ist man zufrieden mit dem Urteil. "Wirklich bedeutungsvoll!" schrieb die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon auf ihrem Twitter-Account, nachdem das Urteil verkündet worden war. Die Londoner Regierung ist natürlich "not amused". Sie zeigte sich vom Urteil enttäuscht und kündigte an, vor die nächste Instanz zu ziehen.
Dementsprechend muss sich bald der britische Supreme Court, das höchste Gericht des Landes, mit dieser Angelegenheit auseinandersetzen. Erste konkrete Folge der juristischen Kontroverse ist, dass sich der Austrittsprozess jetzt verzögern wird. Ob es dazu kommt, dass der Brexit als Ganzes in Frage gestellt wird, wie einige Brexit-Befürworter schon befürchten, bleibt abzuwarten.