Heute sind in vielen Städten Russlands tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um den Tag der Einheit des Volkes zu feiern. Allein in Moskau sind es laut Angaben der Polizei 80.000 gewesen, die über den Prachtboulevard Twerskaja Uliza in hunderten organisierten Gruppen oder in Eigenregie zum Roten Platz gekommen sind, um anschließend dem feierlichen Konzert zur zentralen Veranstaltung beizuwohnen.
Nicht alle nach dem Ende der Sowjetunion eingeführten nationalen Feiertage haben in Russland die gleiche Anteilnahme hervorgerufen. So steht etwa der 2001 geschaffene "Russlandtag" am 12. Juni, obwohl er der eigentliche offizielle Nationalfeiertag der Russischen Föderation ist, bislang eindeutig im Schatten des "Tags des Sieges" am 9. Mai. Der Tag der Nationalen Einheit am 4. November hingegen scheint in Russland immer beliebter zu werden und sich zunehmend im Bewusstsein der Menschen zu verankern.
Dies dürfte auch daran liegen, dass die Botschaft der Feierlichkeiten weltanschaulich genau die Haltung widerspiegelt, die den Menschen im Vielvölkerstaat zurzeit in einer politisch und wirtschaftlich instabilen Welt Orientierung gibt.
Einer der Vordenker dieses Feiertages ist der erste Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche der Russischen Föderation, Alexij II., der seine Idee darüber 2004 wie folgt gefasst hat:
Der Feiertag soll helfen, die Verderblichkeit der Trennung zu erkennen und zur Einigung des Volkes beizutragen. Möge das neue Fest zur Einigung des Volkes und zur Erkenntnis dessen beitragen, dass Russland unsere gemeinsame Heimat ist. Die weltanschaulichen, nationalen, sozialen und anderen Unterschiede, die in jedem gegenwärtigen Staat unvermeidlich sind, dürfen unsere gemeinsame Arbeit für die Prosperität des Vaterlandes und den Wohlstand seiner Bürger nicht behindern.
Der Feiertag wurde auf Initiative des Interkonfessionellen Rates im September 2004 unter dem Eindruck des terroristischen Massakers von Beslan eingeführt. Er sollte den Zusammenhalt aller Volksgruppen und religiösen Gemeinschaften unter dem Banner der russischen Nation unterstreichen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch Zersplitterung, Anarchie und Terror in existenzieller Gefahr befand.
Der Tag der Nationalen Einheit trat an die Stelle des zuvor am 7. November gefeierten "Tag der Aussöhnung und des Einvernehmens". Dieser war in der Bevölkerung nicht unumstritten, da es sich dabei um den umgewidmeten früheren "Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" aus der Sowjetära gehandelt hatte. Der neue patriotische Feiertag am 4. November sollte im Unterschied dazu als geschichtlich unbelastetes Datum konsensfähiger sein. Die Überlegung erwies sich offenbar als richtig.
Auch in diesem Jahr gingen in Moskau Vertreter von hunderten nationalen, patriotischen, religiösen, berufsständischen, kulturellen und studentischen Vereinen und Vereinigungen sowie auch Repräsentanten der politischen Parteien auf die Straße, um zu singen und zu feiern. Die "Gesellschaftliche Kammer" hat auch diesmal wieder den offiziellen Festzug unter dem Namen "Wir sind Eins" initiiert und organisiert.
Die Stimmung, die dabei auf den Straßen herrschte, drückte eine Teilnehmerin des Festzugs möglicherweise am besten aus, der von einem Reporter des kremlkritischen Senders "Dozhd" mit höhnischem Unterton die Frage gestellt worden war, ob es denn richtig wäre, "so pompös zu feiern".
Die so befragte Teilnehmerin des Wettbewerbs "Miss Asia-Russia" antwortete darauf:
Ja, das ist richtig und auch nötig. Das ist nicht irgendeine Demonstration, um jemandem etwas zu zeigen. Das macht wirklich einig, wir gehen und wir lernen einander kennen, unterwegs unterhalten wir uns mit den anderen Gruppen und lernen auch sie kennen und das ist klasse.
Geschichtlicher Hintergrund des Tages der Nationalen Einheit:
Wie bereits oben erwähnt, stammt die Initiative zum Tag der Nationalen Einheit vom Interkonfessionellen Rat und wurde im September 2004 unter dem Eindruck der terroristischen Bedrohung vorgebracht, die sich kurz zuvor erst wieder im Massaker von Beslan manifestiert hatte.
Der weithin unkontrollierte Zerfall der Sowjetunion hatte in den Jahren zuvor dafür gesorgt, dass allein 17 Millionen Russen von einem Tag auf den anderen zu Exilrussen wurden.
Der weitgehende Zusammenbruch staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen, der die 1990er Jahre prägte, hatte dazu geführt, dass sich kriminelle Syndikate den Staat zur Beute gemacht hatten. Gleichzeitig versuchten ausländische Mächte beispielsweise in Regionen wie Tschetschenien oder Dagestan, durch hemmungslosen Terror Teile der Russischen Föderation abzutrennen und dort einen Scharia-Staat zu errichten.
Der seit 1. Januar 2000 als Präsident der Russischen Föderation amtierende Wladimir Putin hat schon zeitnah nach seinem Amtsantritt damit begonnen, entschlossene Maßnahmen zu ergreifen, um die Funktionsfähigkeit der Staates wiederherzustellen und den kriminellen und terroristischen Sumpf auszutrocknen. Sein Ziel war es, den Zusammenhalt der russischen Nation und die Identifikation der Menschen mit ihrem Vaterland wiederherzustellen.
Um das zu erreichen, wollte der Staat eine breite Koalition der gesellschaftlichen Kräfte, der religiösen Gemeinschaften und der sozialen Institutionen schaffen. Vor allem der multinationale und multireligiöse Charakter der russischen Nation sollte dabei unterstrichen werden. Gleichzeitig sollten Gegenwart und Zukunft Russlands mit der Vergangenheit versöhnt werden und diese sollte kein Faktor der Spaltung mehr sein.
Als ein sinnvoller Schritt erschien es dabei, den 7. November, den früheren sozialistischen "Revolutionstag", der nach dem Ende der Sowjetunion seines ideologischen Hintergrundes entkleidet wurde, durch einen neuen, unbelasteten nationalen Feiertag zu ersetzen.
Der 4. November, der seit 2005 als Tag der Nationalen Einheit gefeiert wird, erinnert an die Befreiung Moskaus von polnisch-litauischen Besatzungstruppen durch eine Volkswehr unter dem Kommando des Fürsten Dmitri Poscharski und des Kaufmanns Kusma Minin im Jahre 1612. Auch damals stand die russische Staatlichkeit vor ihrer Auflösung. Die Nation litt unter den Wirren, die Diadochenkämpfe nach dem Tod des zuvor bereits unter den Fürsten umstrittenen Zaren Boris Godunows mit sich gebracht hatten.
In dieser Situation fanden sich russische Patrioten, die nicht für einen Zaren oder sonstigen Herrscher, sondern zum Wohle der Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Nation zu den Waffen griffen und die Souveränität wiederherstellten. Auf dem Roten Platz in Moskau befinden sich heute noch die Denkmäler für beide damalige Kommandanten, Poscharski und Minin.
Der Sieg über die polnische Besatzungsmacht am 4. November 1612 zog einen wichtigen Wendepunkt in der russischen Geschichte nach sich. Die Wiederherstellung der Souveränität ermöglichte es, im Januar 1613 Vertreter verschiedener russischer Stände und Regionen zur Semski-Sobor-Versammlung nach Moskau zu holen. Diese konnte endlich wieder einen unumstrittenen Zaren bestimmen. Die Wahl fiel dabei auf Michail Romanow.
Heute sollen am Tag der Nationalen Einheit der Nationalstolz und das friedliche Miteinander in der Russischen Föderation als einem multikulturellen Land zum Ausdruck gebracht werden, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion leben. Dazu werden im ganzen Land Konzerte, Exkursionen, Ausstellungen und weitere Veranstaltungen organisiert, die sich mit Kultur, Identität und Traditionen verschiedener Völker Russlands befassen. Die zentrale Veranstaltung findet in Moskau statt. Die wichtigste Botschaft des Tags der Nationalen Einheit lautet: Wir wohnen alle auf einer Erde und sollten für eine gute Nachbarschaft sorgen.