Von Roland Muschel
Stuttgart. Die am Mittwoch im Landtag erfolgte Wahl des AfD-Kandidaten Kandidaten Matthias Gärtner in den Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg schlägt weiter Wellen. SPD-Fraktionschef Andreas Stoch sprach am Freitag von einem "schwarzen Tag des Landtags", tags zuvor hatte SPD-Generalsekretär Sascha Binder bereits einen "Dammbruch" beklagt. Im Netz bekommt die Grünen-Landtagsfraktion Druck, weil sie nicht in toto mit Nein gestimmt hat, sondern sich in Teilen zumindest enthalten haben muss.
Kritik hagelt es auch für die Fraktionen von CDU und FDP, weil sie im Verdacht stehen, dass einige Abgeordnete für Gärtner gestimmt haben. Bei Kandidaten der AfD stimme man "mit Nein. Immer", twitterte Ex-Grünen-Bundeschef Cem Özdemir. "Das ist Thüringen im Kleinformat", zürnte CDU-Landesvorstandsmitglied Christian Bäumler mit Blick auf die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum thüringischen Kurz-Zeit-Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD und CDU Anfang 2020.
So groß die Empörung nun ist: Ein Novum ist die Wahl eines AfD-Kandidaten nicht. 2016 hatte der Landtag mit Rosa-Maria Reiter bereits ein AfD-Mitglied zum Mitglied des Verfassungsgerichtshofs gewählt. Nachdem sie im ersten Wahlgang durchgefallen war, wurde sie im zweiten Anlauf mit 53 gegen 40 Stimmen bei 39 Enthaltungen gewählt. 2018 schlug die AfD Sabine Reger als Nachfolgerin der vorzeitig ausgeschiedenen Reiter vor, der Landtag wählte auch dieses AfD-Mitglied im zweiten Anlauf mit 30 gegen 28 Stimmen bei 65 Enthaltungen für neun Jahre ins Richteramt. Bei Gärtner hat es nun sogar dreier Wahlgänge bedurft, bevor er mit 37 gegen 32 Stimmen bei 77 Enthaltungen als stellvertretendes Mitglied bestätigt worden ist.
Da die AfD-Fraktion nur 17 Mitglieder hat, müssen auch Mitglieder anderer Parteien ihr Kreuz hinter dem AfD-Kandidaten gemacht haben. Das war 2016 und 2018 – als die Wahlen keine vergleichbare Aufregung verursacht hatten – indes auch so. Anders als Gärtner ist Reger ständiges Mitglied des neunköpfigen Gerichtshofs und wirkt damit bei allen zentralen Entscheidungen über die Auslegung der Landesverfassung mit.
Damals wie heute lauteten die Argumente derer, die spätestens im zweiten oder dritten Anlauf den AfD-Kandidaten durchkommen lassen wollten, dass der Fraktion gemäß ihrer Stärke das Vorschlagsrecht zustehe. Lehne man jeden AfD-Kandidaten ab, komme es zu immer neuen Wahlgängen. "Die Folge: eine Nominierungs-Dauerschleife. Tolle Plattform für die AfD…", rechtfertigte etwa die Grünen-Fraktion auf Twitter das Vorgehen. Diese Begründung sei "100 Prozent inakzeptabel", echauffierte sich die frühere Grünen-Bundesministerin Renate Künast. Juristisch haltbar ist wohl auch nicht: 2016 hatten die anderen Fraktionen der AfD ein Vorschlagsrecht eingeräumt, "rechtlich zwingend war das nicht", heißt es dazu im aktuellsten Verfassungskommentar von Volker M. Haug von 2018.
Aktuell haben die Grünen im Landtag offenbar unterschätzt, dass Thüringen die Aufmerksamkeit für den Umgang mit der AfD erhöht hat. Dazu kommt der Bundestagswahlkampf mit zugespitzten Debatten.
Im Umgang mit der AfD tun sich die anderen Parteien schon immer schwer. Eine gemeinsame Koalition schließen Grüne, CDU, SPD und FDP kategorisch aus, eine Zusammenarbeit auch. Aber wo fängt die an? Soll man die AfD politisch bekämpfen oder auch mit Hilfe von Verfahrenstricks? Soll man die Rechtspopulisten so weit wie möglich ausgrenzen oder bestätigt man damit das von der AfD gepflegte Bild der "Altparteien", die den Staat unter sich aufteilen und Regeln nach Gusto auslegen?
Die Antwort auf diese Fragen fällt nicht immer gleich aus. 2016 hatten Grüne, CDU, SPD und FDP rasch den Posten eines zweiten Landtagsvizepräsidenten abgeschafft, der ansonsten der AfD zugestanden hätte. 2021 wurde der Posten wiedereingeführt – er steht nun der SPD zu. Dagegen haben die anderen Parteien nicht verhindert, dass der AfD-Abgeordnete Rüdiger Klos dem Verkehrsausschuss des Landtags vorsitzt.
Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz will den Vorfall nun nutzen, um das Gespräch mit den Fraktionschefs von CDU, SPD und FDP zu suchen. "Wir wollen wissen, woher die Ja-Stimmen kommen und darüber reden, wie die demokratischen Parteien künftig gemeinsam gegen Feinde der Demokratie vorgehen."