Sie war Scharfschützin und Soziologin. Berühmt aber wurde Ruth Westheimer durch ihre lockere Art, über Sex zu reden. Nun ist die Pionierin der Sexualaufklärung im Alter von 96 Jahren verstorben.
Die berühmte deutsch-amerikanische Sexualtherapeutin Ruth Westheimer ist tot. Sie ist am Freitag in ihrem Zuhause in New York City im Kreise ihrer Familie gestorben, wie ihr Manager und Freund Pierre Lehu berichtet. Westheimer wurde 96 Jahre alt. In den USA galt die in Frankfurt am Main aufgewachsene Therapeutin als eine Pionierin der Sexualaufklärung, deren Sendungen Kultstatus erlangten.
Für Furore sorgte ihre ebenso unterhaltsame wie kurzweilige Radiosendung "Sexually Speaking", die Anfang der achtziger Jahre in den USA ausgestrahlt wurde. Ihr charakteristisches Kichern und ein offener Umgang mit Sex-Tipps verschafften ihr viele Fans.
"Sagen Sie ihm, dass Sie nicht den ersten Schritt machen werden", riet sie etwa einer besorgten Anruferin im Juni 1982. "Sagen Sie ihm, dass Dr. Westheimer gesagt hat, dass er nicht sterben wird, wenn er eine Woche lang keinen Sex hat."
STERN PAID Sex Lust Frauen 19:15
Der Erfolg ihrer Radioshow öffnete Westheimer neue Türen, sodass sie 1983 ihr erstes Buch schrieb: "Dr. Ruths Guide to Good Sex". In dem Werk klärte sie mit einer Mischung aus Humor und Nüchternheit über Sexualität auf. Rund 40 weitere Bücher sollten folgen.
Die Unvoreingenommenheit der nur 1,40 Meter großen Westheimer, ihre Erscheinung und fröhliche Art machten es dem Publikum einfach, ihr zu vertrauen. Ihre Ratschläge waren oft prägnant und direkt: Sex vor dem Abendessen haben, Fantasien miteinander teilen und flexibel sein, wenn sich der sexuelle Appetit des Partners vom eigenen unterscheidet.
Westheimer vermied das Wort "normal" und legte nahe, dass alles, was zwischen zwei einwilligenden Erwachsenen in der Privatsphäre geschieht, in Ordnung sei. Sie befürwortete auch die Legalisierung der Prostitution, was für eine Kontroverse sorgte. Ihr Buch "Sex für Dummies" wurde in 17 Sprachen übersetzt.
Dass die Worte "Penis" und "Vagina" im Radio und Fernsehen in den USA ohne Piepton zu hören waren, war Westheimer zu verdanken, die ihr mit hessischem Dialekt gefärbtes Englisch bis ans Ende beibehielt. Ohne Hemmungen sprach sie auch über Themen wie Ejakulation und Masturbation, so dass Hunderttausende anonym den Rat der mütterlichen Expertin suchten.
"Ihr Name und der ausgeprägte Klang ihrer Stimme sind untrennbar mit dem Thema Sex verbunden", schrieb die "New York Times" einmal. In den Latenight-Talkshows war die Sexualtherapeutin häufig zu Gast, was ihren landesweiten Ruhm weiter beförderte.
"Wenn wir uns dazu bringen könnten, über sexuelle Aktivität auf die Art und Weise zu sprechen, wie wir über Essen sprechen, dann wären wir einen Schritt weiter", sagte sie 1982 in der Tonight-Show von Johnny Carson. "Ohne dass dabei der Beiklang mitschwingt, dass daran etwas falsch ist." Und sie ergänzte: "Aber wir müssen es mit gutem Geschmack tun."
Sie verteidigte das Recht, sich für oder eben gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden und dann abtreiben zu dürfen. Eindringlich warb Westheimer für die Nutzung von Kondomen, galt aber zugleich als Verfechterin der Monogamie. In den achtziger Jahren setzte sie sich auf dem Höhepunkt der Aids-Epidemie für Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle ein. Sie müsse Menschen, die einige rechte Christen als "Untermenschen" betrachteten, wegen ihrer eigenen Vergangenheit verteidigen, sagte sie.
Denn Westheimer kam 1928 als Kind jüdischer Eltern zur Welt. Im Alter von zehn Jahren, also 1938, schickten ihre Eltern sie in die Schweiz, um sie vor dem Zugriff der Nazis, deren zunehmenden Repressionen und Progromen gegen Juden zu schützen. Ihre Eltern sollte Ruth nie wieder sehen.
Westheimer ging davon aus, dass ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Mit 16 Jahren zog sie nach Palästina, wo sie sich der zionistischen Untergrundorganisation Hagana anschloss. Dort wurde die nur 1,40 große Frau als Scharfschützin ausgebildet – schoss aber damals nach eigenen Angaben auf niemanden.
Bei einer Bombenexplosion trug sie schwere Verletzungen an ihren Beinen davon, viele ihrer Freunde wurden getötet. Später ging sie mit ihrem ersten Mann nach Paris, wo sie an der renommierten Sorbonne studierte. Frisch geschieden zog sie Mitte der Fünfziger nach New York, wo sie eine Weile als Haushälterin arbeitete.
An der Columbia Universität promovierte sie und begann ihre Karriere als Sexualtherapeutin. Zunächst arbeitete Westheimer mit der wegweisenden Sexualtherapeurin Helen Singer Kaplan, bevor sie schließlich mit ihrer Radioshow berühmt wurde. Westheimer war drei Mal verheiratet und hatte zwei Kinder.
Westheimer hatte viele internationale Anhänger und bekam 2019 auch das Bundesverdienstkreuz. "Die Fragen sind überall die gleichen", sagte sie einmal. Zwar brüste sich jedes Land, die besseren Liebhaber zu haben. Sie aber könne beileibe keinen Weltbesten erkennen. Purer "Quatsch" sei auch das Bild vom angeblich so puritanischen Amerika im Vergleich zu einem sexuell sehr viel freieren Europa.
Westheimer äußerte stets ihre Dankbarkeit dafür, den Holocaust überlebt zu haben – und ihr Gefühl, dafür etwas zurückgeben zu wollen. "Ich wusste nicht, dass mein späterer Beitrag zur Welt darin bestehen würde, über Orgasmen und Erektionen zu sprechen, aber ich wusste, dass ich etwas für andere tun musste, um mein Leben zu rechtfertigen", sagte sie der "Harvard Business Review" im Jahr 2016.
Im Nachgang der #MeToo-Bewegung rieben sich einige an Westheimers Einstellung zur Einwilligung: "Diese Idee, dass man, wenn man erregt ist und bereits angefangen hat, fragen sollte: 'Darf ich deine linke oder deine rechte Brust anfassen?' ist einfach Unsinn", sagte sie im Jahr 2019 der britischen Zeitung "The Guardian".
Selbst in ihren letzten Lebensjahren blieb Westheimer äußerst aktiv. Dem Magazin "People" verriet sie 2023 ihr Geheimnis: "Sprechen Sie von morgens bis abends über Sex! Das hält jung!"
Hinweis: Dieser Text wurde mehrfach aktualisiert
