Vier verletzte Feldspieler und ein malader Torwart: Statt an der Feinabstimmung zu arbeiten, ist Bundestrainer Julian Nagelsmann plötzlich als Mangelverwalter gefordert.
Bundestrainer Julian Nagelsmann ist ein Mann des Wortes. Zu 70 bis 80 Prozent bestehe sein Job aus Kommunikation, sagte er kürzlich, wobei der Wert in den zurückliegenden Tagen eher bei 90 bis 100 Prozent gelegen haben dürfte. Nagelsmann musste viel telefonieren. Es waren wenige dieser klassischen Telefonate dabei, in denen Nagelsmann einem Spieler erklärt, warum er ihn dieses Mal nicht in den Kader berufen hat – was natürlich nicht als Verdikt für die Ewigkeit zu verstehen sei. „Streng dich an, die Tür zur Nationalmannschaft steht immer offen“, so lautet Nagelsmanns Motivationsspruch in solchen Fällen.
Nein, der Bundestrainer hatte nahezu ausschließlich frohe Botschaften zu überbringen. Den Stuttgarter Angreifer Jamie Leweling zum Beispiel kontaktierte er und sagte: „Hier ist Julian Nagelsmann. Wenn ich anrufe, dann gibt es entweder schlechte oder gute Nachrichten. Für dich sind es gute.“
Was Nagelsmann da so flapsig ins Smartphone rief, war Lewelings Nominierung für die beiden Nations-League-Spiele am Freitag gegen Bosnien-Herzegowina (20.45 Uhr, RTL) und am kommenden Montag gegen die Niederlande (20.45 Uhr, ZDF). Erstmals steht der 23 Jahre alte Flügelstürmer nun im DFB-Kader. Eine späte Belohnung für die zurückliegende Saison, als Leweling maßgeblich an Stuttgarts Überraschungserfolg beteiligt war. Der VfB wurde Zweiter in der Liga – vor Rekordmeister Bayern München.
Frohe Kunde hatte Nagelsmann zudem für Tim Kleindienst (Mönchengladbach) und Jonathan Burkardt (Mainz). Auch sie durften zum ersten Mal ins deutsche Camp nach Herzogenaurach reisen, wo sich das Nationalteam ab heute auf die beiden Länderspiele vorbereitet. STERN PAID 39_24 Nagelsmann IV 0.01
Dass der Bundestrainer so großzügig Einladungen für die A-Nationalmannschaft verteilt, hat einen für ihn betrüblichen Hintergrund: Fast ein halbes Dutzend Spieler aus dem EM-Kader 2024 musste verletzungsbedingt absagen. Jamal Musiala, Niclas Füllkrug, Kai Havertz und Torwart Marc-André ter Stegen fallen aus; außerdem meldete sich am Montag kurzfristig der Frankfurter Innenverteidiger Robin Koch unpässlich; für ihn rückt Kevin Schade vom FC Brentford nach.
Nagelsmann wird in dieser Woche als Baumeister gefragt sein. Er muss die komplette Offensive neu ordnen: Beide Stürmer, Füllkrug und Havertz, fehlen, ebenso wie ihr Ball-Zuträger Musiala.
Füllkrug wird am schwersten zu ersetzen sein. Begabte, feine Füße gibt es viele im deutschen Team, wuchtige und kopfballstarke Stoßstürmer wie Füllkrug hingegen sind eine Seltenheit.
In seiner Not hat Nagelsmann nun auf den 28 Jahre alten Tim Kleindienst zurückgegriffen, der eine starke Saison in Heidenheim vorweisen kann und nun zu den wenigen Besseren im kriselnden Gladbacher Team zählt. Ob das aber genügt, um auch international zu bestehen, zum Beispiel gegen die starken Niederländer? Nagelsmann hofft auf eine ähnliche Entwicklung wie bei Füllkrug, 31, der ebenfalls ein Spätberufener ist und mit 29 Jahren im DFB-Team debütierte.
Nagelsmann liebt seit jeher das Experimentieren (seine letzte Wette im EM-Viertelfinale gegen Spanien mit Sané/Can für Wirtz/Andrich ging allerdings gar nicht auf), doch solch große Eingriffe in die Mannschaftsstruktur hatte der Bundestrainer nicht vorgesehen für diesen Länderspiel-Block. Im Gegenteil. Nach den Rücktritten von Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Manuel Neuer und Thomas Müller hatte Nagelsmann im Frühherbst die Mannschaft stabilisieren wollen. So wenig Change-Prozesse, so wenig Transformation wie möglich, so lautete seine Devise. Auch deshalb wählte er erneut das Tiny-House-Dorf „Home Ground“ in Herzogenaurach als Basislager für den Lehrgang – dieses hatte die Nationalmannschaft bereits während der EM bezogen.
Und jetzt ein Umbruch wider Willen. Mit neuen Spielern, die Nagelsmann eher nicht für das nächste große Turnier, die WM 2026, im Auge hat. Kleindienst wird wohl keine Einladung mehr bekommen, wenn Füllkrug wieder fit ist und Maximilian Beier in Dortmund Fuß gefasst hat. Jamie Leweling wird es ebenfalls schwer haben, sich in zwei Jahren gegen Musiala, Wirtz, Sané oder Gnabry durchzusetzen.
Für Nagelsmann werden die Partien gegen Bosnien-Herzegowina und die Niederlande vor allem eine Erkenntnis bringen: Ob Spieler aus der zweiten und dritten Reihe einspringen können, ohne dass dadurch die gesamte Team-Statik ins Wanken gerät. Ansonsten wird dieser Länderspiel-Kader nicht mehr sein als ein origineller Eintrag in der DFB-Chronik. Er wird so nie wieder berufen werden – was bedeutet, dass Nagelsmann vor dem nächsten Lehrgang im November ein paar unangenehme Gespräche wird führen müssen. Er muss dann den vielen Neuen erklären, warum er sie dieses Mal leider nicht berücksichtigen kann.
Wobei, das zum Trost, die Tür zur Nationalmannschaft natürlich immer offen bleibt.