Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser, ein wildes Jahr geht zu Ende. Dieses anstrengende 2024 hat viele Menschen im Land an die Grenzen ihrer Geduld, Resilienz, Leidensfähigkeit gebracht. Die Welt ist in Aufruhr, und die Einschläge kommen näher: Das ist die beunruhigende Erfahrung, die Bürger landauf, landab machen. Nicht nur Bedürftige, auch Mittelstandsfamilien, Rentner, Selbstständige, Studenten und Auszubildende sorgen sich um ihr Auskommen. Die Inflation verteuert Lebensmittel, Mieten steigen rasant, für Ablenkungen vom Alltag wie Urlaub oder Wochenendausflüge reicht bei vielen das Geld nicht mehr. Einst stolze Leuchttürme der deutschen Industriewirtschaft wie Volkswagen und Autozulieferer wie ZF Friedrichshafen taumeln in die Krise, Tausende Beschäftigte bangen um ihren Arbeitsplatz. Besserung scheint nicht in Sicht zu sein, im Gegenteil: Ängstlich erwarten Politiker und Wirtschaftslenker den 20. Januar, wenn Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt. Macht er seine Drohung wahr, hohe Zölle auf Importe zu erheben, würden viele deutsche Unternehmen noch härter getroffen. Der politische Wechsel in Amerika ist vielfach analysiert worden, aber nur wenige Beobachter beschreiben sein grundstürzendes Potenzial: Die vollständige Machtübernahme der populistisch-nationalistischen "MAGA"-Bewegung in Präsidentenamt, Senat und Abgeordnetenhaus kommt einer Revolution gleich. Die USA werden sich stark verändern, und es ist unwahrscheinlich, dass dieser Prozess auf vier Jahre beschränkt bleibt. In Brüssel, Berlin und Paris muss man sich ernsthaft Gedanken darüber machen, ob Washington ein verlässlicher Partner bleibt. Umso dringlicher ist die Notwendigkeit, dass die EU-Länder, die sich zu lange auf Amerikas militärischen und geheimdienstlichen Schutzschild verlassen haben, endlich größere Anstrengungen unternehmen, um die Union und ihre demokratischen Institutionen gegen Imperialisten, Extremisten und Digitaloligarchen zu verteidigen. Die Bedrohungen kommen aus allen Himmelsrichtungen. Im Osten strebt Putins aggressives Regime nach Ausdehnung und geht dabei über Leichen. Im Süden toben Krieg und Aufstand im Nahen Osten, grassieren Hungersnöte in Ostafrika, infiltrieren Islamisten Regierungszentralen. Im fernen Westen irrlichtert Amerika, im nahen Westen schlingert der wichtigste Verbündete Frankreich immer tiefer in politische und finanzielle Nöte. Im Norden gefährdet Putins "Schattenflotte" die Handels- und Kommunikationswege in der Ostsee. Egal, aus welcher Himmelsrichtung sie stammen, die täglichen Nachrichten sind überwiegend düster. Kein Wunder, dass viele Zeitgenossen sich waidwund ins Private zurückziehen und umschalten, wenn die Nachrichtensendungen beginnen. Das ist umso verständlicher, wenn dann auch noch ein fürchterlicher Terrorakt wie in Magdeburg die vorweihnachtliche Stimmung erschüttert. Die Aufarbeitung des Anschlags hat gerade erst begonnen, offenbart jedoch schon jetzt bestürzende Versäumnisse: Der Attentäter war den Behörden nicht nur bekannt, sondern erhielt sogar eine Gefährderansprache der Staatsanwaltschaft. Seine Arbeitskollegen beschreiben ihn als aggressiv, die saudischen Geheimdienste warnten ihre deutschen Partner ausdrücklich vor ihm, in den sozialen Medien ließ sich seine ideologische Radikalisierung verfolgen. Warum wurde so einer nicht enger in den Fokus genommen, warum konnte er fünf Menschen töten und 235 verletzen? Bereits die Messermorde in Mannheim und Solingen warfen peinliche Fragen für die deutschen Behörden auf, der Anschlag in Magdeburg entlarvt die Sicherheitsarchitektur nun endgültig als überholt und teils schockierend ineffizient. Fachleute wie Bundeskriminalamtschef Holger Münch fordern seit Langem mehr Möglichkeiten zur Tatprävention und zur Strafermittlung, doch die FDP in der notorisch zerstrittenen Ampelregierung verhinderten jede maßgebliche Novelle – von der Vorratsdatenspeicherung bis zur Eindämmung des wuchernden Datenschutzes. So kommt es, dass deutsche Geheimdienste immer wieder die Aufklärung verdächtiger Personen im In- und Ausland abbrechen müssen, weil die Betreffenden den hohen deutschen Daten- und Persönlichkeitsschutz genießen. Selbst Kriegsverbrecher Putin dürfte nicht mit allen geheimdienstlichen Mitteln observiert werden – während der Kreml längst einen hybriden Krieg gegen Deutschland führt. Da ist etwas grundsätzlich aus dem Lot geraten im deutschen Staat, und viele Bürger erkennen dies glasklar. Sie wundern sich über zahnlose Sicherheitsdienste, sie ärgern sich über monatelange Wartezeiten auf Ämtern, verspätete Züge, ewige Baustellen und über Landesbehörden, die fröhlich vor sich hinwursteln, ohne sich mit dem nächsten Bundesland ein paar Kilometer weiter abzustimmen. So kann es nicht bleiben, das ist offensichtlich. Auch in der Politik hat man das erkannt. Konkrete Gesetzesvorschläge für grundlegende Reformen fehlen noch, aber ermutigende Initiativen gibt es. Die Politikveteranen Thomas de Maizière (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) haben mit dem ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle eine "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" gegründet, Bundespräsident Steinmeier hat die Schirmherrschaft übernommen. In einem Jahr soll die Gruppe einen konkreten Handlungsplan vorlegen, erste Hinweise klingen vielversprechend. Auch im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) arbeitet man an neuen Ansätzen: weg vom deutschen Bürokratiewahn, jede Eventualität bis ins Kleinste regeln zu wollen, hin zu einer chancen- und damit auch risikobasierten Verwaltung. Die nächste Bundesregierung wird Ansätze wie diese unterstützen müssen, wenn sie es ernst meint mit dem Aufbruch. In den Merkel-Jahren ist vieles liegengeblieben, die Ampel scheiterte an ihrem Streit, nun braucht es eine echte Reformregierung. Hört man sich im Land um, in Firmen und Verbänden, bei Bürgern im Westen wie im Osten, bekommt man den Eindruck: Die meisten Menschen sind bereit dafür. Und sehr viele würden es auch akzeptieren, den Gürtel zeitweise enger zu schnallen, wenn die Lasten gerecht verteilt und die allfälligen Probleme endlich konsequent angepackt würden. Was es dafür braucht, sind Aufrichtigkeit, Respekt und Entschlossenheit. Politiker, die einander beschimpfen, Misserfolge als Errungenschaften verkaufen und sich vor unangenehmen Entscheidungen drücken, braucht niemand. Die Zeiten sind zu ernst für Schaufensterkämpfchen und Egoismusschlachten. "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen", sprach Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten "Ruck-Rede" vor bald 30 Jahren. So einen kollektiven Ruck braucht das Land heute wieder. Wenn die große Mehrheit mitzieht und sich für konstruktive Lösungen engagiert, taugt das auch als Stoppschild gegen den erstarkenden Populismus von rechts und links. Die in den vergangenen Monaten an vielen Stellen im Land entstandenen Bürgerräte sind ein ermutigender Anfang und zeigen, dass es alternative Wege zur vielerorts erstarrt wirkenden institutionellen Problemlösung gibt. So bleibt zu hoffen, dass 2025 besser beginnt als 2024 endete. Nach wie vor zählt Deutschland zu den wohlhabendsten, angesehensten und lebenswertesten Ländern der Welt. Die Freiheit, der Rechtsstaat und die Sozialversorgung, die 83 Millionen Menschen hier genießen, entsprechen immer noch dem Goldstandard. Eine Garantie darauf gibt es jedoch nicht. "Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern", schrieb der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Schlüsselroman "Der Leopard". Es lohnt sich, Klassiker wie diesen an den Festtagen aus dem Regal zu nehmen und in den Weisheiten der Altvorderen zu schmökern, um die Anforderungen an unsere Gegenwart zu begreifen. Dazu vielleicht einen Tee oder ein Glas Wein, eine Kerze und liebe Menschen auf der Couch: Das ist es doch, was man sich an Weihnachten wünscht. So wünsche ich es auch Ihnen – und zudem im Namen der gesamten Redaktion von t-online ein friedliches und fröhliches Weihnachtsfest. Für Ihre Treue als Leserinnen und Leser danken wir Ihnen sehr herzlich. Wir könnten uns kein besseres Publikum wünschen und haben uns auch in diesem Jahr über viel Zuspruch, Anregungen und Kritik gefreut. Bis zum nächsten Tagesanbruch am 6. Januar gönnen wir Ihnen und uns nun ein wenig Ruhe – und dann hoffen wir alle gemeinsam, dass 2025 erfolg- und segensreich wird! Herzliche Grüße Ihr Florian Harms Chefredakteur t-online E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter. Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren. Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier . Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier . Mit Material von dpa. Zum Schluss Winterwahlkampf in Deutschland: