Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser, in diesen Stunden überschlagen sich die Ereignisse. Wohin man im Nahen Osten schaut, die Lage eskaliert. Dass israelische Bodentruppen die Grenze zum Libanon überschreiten, hätte vor einer Woche noch als Erdbeben gegolten. Die Offensive geht heute zwar erst in den zweiten Tag, und doch wirkt sie schon wieder überholt. Denn gestern Abend folgte der nächste Schlag: Der Iran feuerte Hunderte Überschallraketen auf den Großraum Tel Aviv, auf Haifa und Jerusalem, im ganzen Land heulten die Sirenen. Zwei Terroristen machten in Jaffa Jagd auf Passanten und erschossen mehrere Menschen. Die Gewalttaten folgen in immer kürzeren Abständen; selbst ein großer Krieg scheint in der Region nicht mehr ausgeschlossen zu sein. Im Pulverdampf übersieht man leicht das Wesentliche. Deshalb hilft es, wenigstens kurz innezuhalten und genauer hinzuschauen: Das wichtigste Ziel der israelischen Militärs liegt nämlich tatsächlich weder im Gazastreifen noch im Libanon. Stimmt schon, nach dem Massaker der Hamas vor einem Jahr schien den Generälen nichts wichtiger zu sein, als die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen und die Terrortruppe zu vernichten. Der brutale Feldzug zwischen Gaza und Rafah, bei dem die Jerusalemer Regierung kaum Rücksicht auf Zivilisten nimmt, ist zwar noch immer nicht vorüber. Auch im Südlibanon toben heftige Kämpfe. Doch die israelischen Militärstrategen um Premier Benjamin Netanjahu haben ihre Lagebeurteilung in den vergangenen zwei Wochen dramatisch verändert. Seit dem Schlag gegen die libanesische Hisbollah ist das israelische Überlegenheitsgefühl wenigstens teilweise wiederhergestellt. Die Geheimdienste sind nicht länger eine Gurkentruppe, die den Großangriff der unterlegenen Hamas in arroganter Verblendung verschlafen haben. Das Blatt hat sich gewendet. Die Führung der viel gefährlicheren Hisbollah, die im Libanon auf der Lauer lag, ist zerschlagen, die Kommandostruktur der Truppe liegt in Trümmern, ihr Anführer Hassan Nasrallah ist tot und das Waffenarsenal zu großen Teilen in Rauch aufgegangen. Kein Feind Israels scheint sich vor dem langen Arm des Geheimdiensts Mossad verstecken zu können. Nirgendwo ist man weit genug entfernt, um vor den Bomben israelischer Kampfjets sicher zu sein – noch nicht einmal am äußersten Ende der Arabischen Halbinsel im Jemen. Israels gefürchtete Übermacht ist zurück. Deshalb nehmen die Prioritäten in Jerusalem jetzt wieder ihre gewohnten Plätze ein. Denn so groß die Gefahr durch Hamas und Hisbollah auch gewesen ist: Nicht einmal auf dem Höhepunkt ihrer Schlagkraft haben die beiden Terrororganisationen Israel in seiner Existenz bedroht. In diese Kategorie schafft es nur eine einzige Kraft: die entfesselte Energie der kleinsten Teilchen. Dass die Bausteine der Materie zerbersten und binnen Sekunden ganze Städte auslöschen, daran arbeitet im Stillen ausgerechnet jenes Regime, das als Drahtzieher hinter Hamas, Hisbollah, den syrischen Mafia-Herrschern und den jemenitischen Huthi steht: Das Herz der Finsternis, so sieht man es in Jerusalem und Tel Aviv, schlägt in Teheran. Die Iraner bezeichnen ihr Nuklearprogramm zwar als zivil, haben es jedoch bis kurz vor die Vollendung einer Atomwaffe getrieben. So ambitioniert ist es mittlerweile, dass es in einer eigenen Liga spielt. Die Warnungen vor dem Regime in Teheran und das Bedürfnis, dessen Aufstieg zur Atommacht mit allen Mitteln zu verhindern, hört man in Israel nicht nur aus dem Lager der Extremisten und Zyniker, zu denen Premier Netanjahu und sein Kabinett gehören. Auch gemäßigte Stimmen wie die von Präsident Izchak Herzog legen angesichts der nuklearen Bedrohung ihre Zurückhaltung ab, sprechen vom "Imperium des Bösen" und versichern, Israel werde alle Gefahren beseitigen, die seine Existenz bedrohen. Priorität Nummer eins eben. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit klaffte bisher jedoch eine unüberbrückbare Kluft. Zwar sind die Fähigkeiten der Militärs auch gegenüber dem Iran beträchtlich. Der Mossad hat jüngst an einem der bestabgesicherten Orte in Teheran zugeschlagen und dort den Chef der Hamas bei einem Besuch getötet. Israels Luftwaffe hatte einige Monate zuvor eine Flugabwehrbatterie in der Nähe eines Nuklearforschungszentrums ausgeschaltet, gewissermaßen zu Demonstrationszwecken. Doch so weit der Arm von Israels Militärmaschinerie auch reichen mag: Die entscheidenden iranischen Anlagen sind so tief in Bunkern vergraben, dass Israel sie nicht gänzlich zerstören kann, solange der US-Präsident nicht mitzieht und die geballte Macht der Air Force ebenfalls darauf loslässt. Wer sich fragt, wie groß die Begeisterung für diese Idee in Washington ist, könnte einfach mal am Weißen Haus klingeln und vorfühlen, ob der Chef nicht Lust hätte auf eine neue Runde Nah- und Mittelostprobleme. Irak, Afghanistan, all die schillernden Erinnerungen! Es würde ein sehr kurzes Gespräch. Israels Premier Netanjahu hat sich diese Abfuhr schon öfter geholt. Deshalb richtete er sich nun an ein anderes Publikum: Er erklärte per Videobotschaft sein Wohlwollen und seinen tief empfundenen Respekt gegenüber dem Iran . Ja, Sie haben richtig gelesen. Eine Botschaft der Hoffnung sollte es sein, gerichtet an das "noble persische Volk", jedenfalls jenen Teil, der keinen Turban trägt. Die Befreiung von der tyrannischen Mullah-Herrschaft, deutete der Herr über Israels Streitkräfte an, könne "sehr viel schneller kommen, als die Leute denken". So mancher Turbanträger dürfte in diesem Moment misstrauisch zu seinem Handy geschielt und sich gefragt haben, ob es gleich explodiert. Noch nie hat Netanjahu über einen solchen Handlungsspielraum verfügt wie gegenwärtig. Bis zu den US-Wahlen am 5. November kann niemand in Washington, auch nicht Präsident Joe Biden oder Kandidatin Kamala Harris, Netanjahu von einer Eskalation abhalten, ohne vom Trump-Lager als Handlanger der Mullahs und Terroristen gebrandmarkt zu werden. Um mit der tödlichen Bedrohung aus dem Iran aufzuräumen, ist die Bahn jetzt also frei. Israelische Bomben mögen zwar nicht in der Lage sein, die iranischen Atombunker allesamt zu brechen. Aber wie es um die weichen Ziele bestellt ist, die an der Oberfläche auftauchen, hat die Hisbollah gerade erfahren – und ist jetzt führungslos. Ist das iranische Regime so stark unterwandert wie sein Zögling im Libanon? Würde Netanjahu für die Tötung der Regierungsspitze in Teheran grünes Licht geben? Das wissen wir noch nicht. Aber wo die Prioritäten liegen, das wissen wir jetzt. Ohrenschmaus "Ich schaue mir die Welt an und ich sehe, dass sie sich dreht, Während meine Gitarre leise dazu weint. Aus jedem Fehler müssen wir etwas lernen, Immer noch weint meine Gitarre leise dazu." Ja, dieser Song passt zur aktuellen Weltlage. Machtwechsel in Mexiko Es ist ein historischer Machtwechsel: Nach dem Ende der sechsjährigen Amtszeit des Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador wird Mexiko erstmals von einer Frau regiert: Die 62-jährige Physikerin Claudia Sheinbaum, die bei den Präsidentschaftswahlen im Juni auf mehr als 60 Prozent der Stimmen kam, tritt ein schweres Erbe an. Rund 115.000 Verschwundene, eskalierende Gewalt der Drogenkartelle, Korruption und die Folgen des Klimawandels sind nur einige der Probleme des größten spanischsprachigen Landes der Welt. Heute hält Sheinbaum auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt, vor Tausenden Menschen ihre Antrittsrede. Weltsynode im Vatikan Ein bisschen, nun ja, skurril darf man das schon finden: Da beruft Papst Franziskus eine Weltsynode ein, um mit der gesamten katholischen Glaubensgemeinschaft über Reformen, Dezentralisierung und mehr Mitbestimmung in der Kirche zu debattieren – klammert aber umstrittene Punkte wie Weiheämter für Frauen oder den Pflichtzölibat für Priester von vornherein aus. Wenn von heute an mehr als 360 Kirchenvertreter in Rom zusammenkommen und bis zum 27. Oktober fachsimpeln, ob sich ihr verknöcherter Altmännerverein noch retten lässt, liegt die Ausdeutung der Ergebnisse wie immer in der katholischen Kirche nur bei einem einzigen Mann: dem Pontifex selbst. Das sagt dann auch schon alles über die Zukunft dieser Organisation. Einheit feiern Weil Mecklenburg-Vorpommern derzeit die Bundesratspräsidentschaft innehat, finden die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit dieses Jahr in Schwerin statt. Unter dem Motto "Vereint Segel setzen" lädt die Landeshauptstadt von heute bis Donnerstag zu einem Bürgerfest mit Konzerten, Lesungen, Führungen und Diskussionsveranstaltungen. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig hält die Eröffnungsrede, Kanzler Olaf Scholz kommt zum Bürgerdialog. Schlagabtausch der Vizekandidaten Das Aufeinandertreffen der US-Vizepräsidentschaftskandidaten J. D. Vance und Tim Walz wurde mit Spannung erwartet, einschließlich hitziger Debatten. Doch es lief anders als erwartet. Hier lesen Sie einen ersten Überblick über den Verlauf der Debatte. Lesetipps Sie sollte das "bessere" Deutschland werden, so wollte es vor 75 Jahren ihr Gründer Walter Ulbricht: Der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk erklärt im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke, warum die DDR krachend scheiterte. "Diese Angriffe sind ein letztes Aufbäumen des Iran": Der Historiker Uriel Kashi erzählt im Interview mit meinem Kollegen David Schafbuch, wie er die Attacken in Jerusalem vergangene Nacht erlebt hat. Tausende Libanesen fliehen vor israelischen Bomben – aber wohin eigentlich? Mein Kollege Luca Wolpers berichtet von dramatischen Szenen. Die Eskalation in Nahost wühlt den US-Wahlkampf auf: Unser Amerika-Korrespondent Bastian Brauns schaut vor und hinter die Kulissen. Zum Schluss Diese Wessis sind einfach ausgebufft! Ich wünsche Ihnen morgen einen harmonischen Feiertag. Am Freitag kommt der Tagesanbruch von unserem Amerika-Korrespondenten Bastian Brauns, im Podcast am Samstag werde ich Ihnen von meinen Erlebnissen in Thüringen berichten. Herzliche Grüße Ihr Florian Harms Chefredakteur t-online E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de Mit Material von dpa. Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren. Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier . Alle Nachrichten lesen Sie hier .