Kassem Taher Saleh kam als Flüchtling nach Sachsen, heute sitzt er für die Grünen im Bundestag. Über Sachsen spricht er gern, über die AfD eher weniger. Geht das überhaupt? Sie steht im Vorgarten, er an der Straße. "Darf ich Ihnen Infos zur Wahl dalassen?" Kassem Taher Saleh winkt mit ein paar Flugblättern. Die Frau schaut zu ihm rüber, mustert ihn und sagt: "Ich weiß, was ich wähle." Dass er von den Grünen kommt, erwähnt er gar nicht mehr, seit er ein paar Haustüren zuvor erst von einem Hund und dann von dessen Herrchen angebellt wurde. "Ihr habt genug Schaden angerichtet", hatte das Herrchen gesagt und war schnell wieder verschwunden. Landtagswahlkampf für die Grünen in der sächsischen Provinz. Es gibt erbaulichere Wege, einen Nachmittag mitten im August bei Sonne und 30 Grad zu verbringen. Aber hilft ja nichts. Also lässt er es drauf ankommen. "Trotzdem ein paar Infos?", fragt er. Und plötzlich lächelt die Frau. "AfD wähle ich auf keinen Fall", sagt sie. "Das ist ja schon mal eine gute Nachricht", sagt er. Und dann lächelt er auch. So hat er Sachsen gern. Sein Sachsen, würde er wahrscheinlich sagen. Ein ungewöhnlicher Grüner Kassem Taher Saleh, 31 Jahre alt, ist ein ungewöhnlicher Grüner, nicht nur in Sachsen, aber besonders hier. Während seine Partei angesichts einer AfD bei 30 Prozent in einem düsteren Spot zur Landtagswahl davor warnt, ein freies, weltoffenes, demokratisches Sachsen könne bald nur noch in Erzählungen existieren, sagt er Sätze wie: "Die breite Masse an Migranten fühlt sich hier wohl." Und: "Die Sachsen sind die freundlichsten Menschen der Welt." Über die AfD redet er nicht so gern, über Rassismus auch nicht. Dabei erlebt er ihn, seit Jahren und noch immer. Er ist selbst, nun ja: Migrant. Flüchtling. Geboren im Irak , mit zehn Jahren vor dem Krieg geflohen, 2003 war das. Abitur gemacht, studiert, 2021 in den Bundestag eingezogen. Als erster Abgeordneter aus Sachsen, der nicht dort geboren ist. Sein Leben lässt sich als sächsische Erfolgsgeschichte erzählen. Doch diese Geschichte passt nicht zu dem Bild, das Sachsen im Jahr 2024 von sich zeigt: ein Land, in dem die AfD nicht nur die Schlagzeilen, sondern auch die Umfragen prägt. In dem es riesige Neonazi-Aufmärsche gibt. Und in dem es CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer trotzdem für richtig hält, vor allem vor den Grünen zu warnen. Dabei geht es für sie bei der Wahl am 1. September darum, überhaupt über fünf Prozent zu kommen. Man könnte auf die Idee kommen, dass sich Kassem Taher Saleh sein Sachsen schönredet. Dass er das sogar muss, um hier eine Chance zu haben. Um gewählt zu werden. Es wäre naheliegend – und es ist vermutlich nicht ganz falsch. Doch wer ihn mehrere Tage lang begleitet, mit ihm durchs Land fährt und die Menschen besucht, der stellt fest: So einfach ist es nicht. Da ist noch mehr. Deutschrap und Identitätsfragen Kassem Taher Saleh hat es eilig. Er sitzt im Elektroauto und prescht über schmale Straßen zum nächsten Termin. In der Sächsischen Schweiz wollen Künstler einen alten Gasthof aus DDR-Zeiten vor dem Verfall retten und in ein Kulturzentrum verwandeln, die Heymannbaude. Mit Tanz und Theater, mit Spaß und Spiel. Es ist das andere Sachsen, das freundliche Sachsen, über das er gerne redet. Und das er in diesem Wahlkampf vor allem zeigen will, auf seiner Tour durch alle Landkreise. Aus den Boxen des Wagens wummert harter Deutschrap, während Kassem Taher Saleh über Identitätsfragen auf dem Land sinniert. "Ist er einer von uns oder nicht? Das ist hier extrem wichtig", sagt er. Bei ganz vielen seiner Termine gehe es erst mal zwanzig Minuten nur um diese Frage, dann erst werde es inhaltlich. "Sie sind nicht gewohnt, einen sächsischen Politiker zu erleben, der anders aussieht", sagt er. "Das ist auch okay, sie kennen es nicht anders. Ich will das gar nicht beklagen." Er ist ja einer von ihnen, so sieht er das. Ist hier aufgewachsen. Hat sein Abitur gemacht. Hat in Dresden Bauingenieurwesen studiert. Er hat hier etwas aus sich gemacht, so könnte man es auch sagen. Wenn er mit seinen Sachsen redet, sächselt er genau wie sie. Zustimmung oder Erstaunen oder Freude drückt er mit der sprachlichen Allzweckwaffe der Sachsen aus, dem eingestreuten: "Nu!" Nachts kamen die Hunde Und doch ist die Identitätsfrage für einen wie ihn nicht so einfach. Es fängt ja schon beim Namen im Pass an. "Kassem Taher Saleh" – ein Vorname, zwei Nachnamen ohne Bindestrich. "Geht, wenn man aus Spanien kommt", sagt er. Nicht aber wie er aus dem Irak. Weil "Taher Saleh" in deutschen Amtstuben nicht vorgesehen war, heißt er dort mit Nachnamen bislang nur: Saleh. Es mag wie eine Kleinigkeit wirken. Aber es ist die ständige Erinnerung an das, was er sowieso nicht vergessen wird. An einen anderen Teil seiner Identität. An den Irak, den Krieg und die Flucht. An die Zeit im Plauener Flüchtlingsheim, eine alte Kaserne, sechs Personen in drei Zimmern. Fünf Jahre lebte er dort mit seiner Familie. Nachts kamen die Polizisten mit ihren Hunden rein. Irgendwann bekam sein Bruder psychische Probleme. Nur deshalb kamen sie raus und durften in eine kleine Wohnung umziehen. Dort leben seine Eltern noch heute. Seine Mutter, die im Irak Mathelehrerin war, hier schnell Deutsch lernte und es nach vielen Versuchen irgendwann doch aufgab, in Deutschland als Lehrerin zu arbeiten. Sein Vater, ein Volkswirt, der im Irak beim Zoll arbeitete und hier mit seiner Frau erst einen Dönerimbiss und später einen Lebensmittelladen aufmachte. "Was man dann halt so machen kann", sagt Taher Saleh. Wenn Abschlüsse nicht anerkannt werden. Und diesmal scheint dann doch ein Vorwurf durch, ganz leise. Ist das seine Motivation, Politik zu machen? Es besser zu machen? Ja, auch. Die "Insel der Glückseligkeit" Ein neuer Tag. Kassem Taher Saleh ist in Bautzen. Ausgerechnet Bautzen. Eine Woche zuvor war die Stadt mal wieder unfreiwillig in die Schlagzeilen geraten. Rechtsextreme hatten gegen den Christopher Street Day mobilisiert, Reichsflaggen gegen Regenbogenflaggen, Schwarz-Weiß-Rot gegen Bunt. 700 Rechte zogen durch die Stadt und ließen die 1.000 Bunten zur Randnotiz verkommen. Deutschland erschauderte. Kassem Taher Saleh beißt in ein Käsesandwich. Er steht auf dem Marktplatz. Eine Band spielt. Kinder jonglieren und ziehen riesige Seifenblasen durch die Luft. Statt Apfel, Orange und Johannisbeere steht "Vielfalt", "Toleranz" und "Solidarität" auf den Etiketten der Saftflaschen. Eine Frau ist als Krümelmonster verkleidet, ganz in blauem Frottee, weiße Glubschaugen auf der Stirn. Auf einem Pavillon steht: "Insel der Glückseligkeit". "Stabile Aktion", sagt Taher Saleh. Er steht mit einer Frau zusammen, die das hier organisiert, seit Monaten. Mit dem "Happy Monday" will sich die Stadtgesellschaft ihre Stadt zurückerobern von den Griesgrämigen, von den Rechten. Die treffen sich hier regelmäßig zur "Montagsmahnwache", auch heute stehen sie am anderen Ende der Fußgängerzone. Aber vor allem: hinter einem Dutzend Polizeibullis, die bei beiden Veranstaltungen stehen. "In jeder anderen Stadt wäre es anders möglich", sagt die Frau. "Hier nicht." Die "Insel der Glückseligkeit", sie muss in Bautzen schwer bewacht werden. "Ich bin mit Nazis aufgewachsen" Kassem Taher Saleh sieht trotzdem zufrieden aus. Eine Mitarbeiterin macht ein paar Videos für Instagram, Tausende werden dort später das bunte Bautzen sehen. Nicht immer nur das Schlechte verbreiten, sondern das Gute. Den Engagierten den Rücken stärken, seinem Sachsen. So versteht er seine Politik. Er weiß selbst, dass es eine Gratwanderung ist. Die Grenze zwischen Das-Schöne-zeigen und Sich-alles-schönreden ist schmal. "Ich überlege jedes Mal neu, was ich teile", sagt er. Findet er immer das richtige Maß? Vermutlich nicht. Doch dass zwar viel Gutes passiert, in Sachsen aber längst nicht alles gut ist – das braucht ihm niemand erklären. Man muss ihn danach fragen, aber dann wird er plötzlich sehr ernst. "Ich kann locker zwei Stunden von Rassismuserfahrungen erzählen", sagt Taher Saleh. "Ich bin mit Nazis aufgewachsen." Das sei ihm in der Jugend zwar noch nicht so bewusst gewesen. Aber es war alles immer da. Der "Naziverein" in Plauen, der ihn auf dem Fußballplatz immer besonders brutal umgenietet hat. Die Kumpels, die ihn "Bombenleger" nannten, "als Witz eher". Die Lehrer, die ihm sagten, er werde nie im Leben einen Abschluss kriegen. Die verbalen Angriffe, auch die körperlichen. "Viel Scheiße erlebt." Doch die Geschichte endet für ihn damit nicht. Die Scheiße hat ihn geprägt, so sieht er das. Hat ihn zu dem gemacht, der er ist. "Durch den Fußball habe ich mir in der Jugend Anerkennung erarbeitet", sagt er. "Und ich habe eine Menschenkenntnis entwickelt, die mir in der politischen Welt extrem hilft." Ein dickes Fell hat er sowieso bekommen. "Manchmal habe ich es auf, manchmal nehme ich es ab." Wo das Sachsen wächst, das er meint Das gute Sachsen, das Kassem Taher Saleh meint – es wächst nicht nur auf Bautzens buntem Marktplatz, sondern auch in einem schmucklosen Bürogebäude in Dresdens Norden. Jedenfalls auf einer Powerpoint-Folie. Silicon Saxony hat hier seine Büros, ein Lobbyverein für die Mikroelektronik- und Softwarebranche im Land. Sie zählt schon jetzt 81.000 Beschäftigte und 3.650 Unternehmen, vor allem Mittelstand, aber auch die großen Namen sind dabei: Bosch, SAP, Siemens , GlobalFoundries. Neuerdings auch der Chiphersteller TSMC, den der Staat mit fünf Milliarden Euro hergelockt hat. Kassem Taher Saleh will über die Zukunft sprechen. Der Halbleitermarkt boomt weltweit, man rechne bis 2030 knapp mit einer Verdopplung, erzählt der Silicon-Saxony-Chef. Und Sachsen wird profitieren, da sind sie sich einig. 27.000 neue Jobs entstünden allein im Großraum Dresden bis 2030. Ohne viele Fachkräfte aus dem Ausland werde es nicht gehen. Eine große Chance für Sachsen. Aber auch für die Fachkräfte, die herkommen? Aus Dankbarkeit Für Kassem Taher Saleh ist die Antwort klar. Er hat hier seine Chance bekommen, so sieht er das. Trotz allem. "Ich bin Sachsen extrem dankbar", sagt er. Dem Sportlehrer, der Freitagnachmittag mit ihm in der Sporthalle Deutsch gebüffelt hat. Dem Nachbarn, der ihm Nachhilfe in Geschichte gegeben hat. Den Freunden, die heute noch alles für ihn stehen und liegen lassen, wenn er anruft und Hilfe braucht. Harte Schale, loyaler Kern. So sind sie in seinen Augen, die Sachsen. Er will ihnen etwas zurückgeben. "So habe ich es von meinen Eltern gelernt", sagt er. "Für die Menschen da zu sein, die einen unterstützt haben. Und für alle, die es nicht so leicht haben." Auch deshalb macht er seine Politik so, wie er sie macht. Aus Dankbarkeit. Irgendwann in diesen Wahlkampftagen holt Kassem Taher Saleh sein Handy raus und zeigt ein paar Nachrichten. "Von meinem Sportlehrer", erklärt er. Der Mann, der mit ihm vor einigen Jahren Deutsch geübt hat, schickt ihm jetzt Links zu Verschwörungsseiten, rassistisches Zeug. "Er ist leider abgedriftet." Schon lange antwortet er nicht mehr darauf. "Hat keinen Zweck", sagt er. Dann zuckt er mit den Schultern. Ist eben alles nicht so einfach. Hier in seinem Sachsen.