Joe Biden ist raus, Kamala Harris nimmt es – wahrscheinlich – mit Donald Trump auf. Was bedeutet das für den Kampf ums Weiße Haus? Politologe Stephan Bierling analysiert die Lage. Joe Biden gibt seine Kandidatur fürs Weiße Haus auf, Kamala Harris will Donald Trump den Weg zurück an die Macht verstellen. Derart aufregend war ein US-Wahlkampf selten. Welche Chancen hat Harris? Welche Strategie wird Trump wählen, nachdem sein Lieblingsgegner Biden aufgegeben hat? Und welche Fähigkeit macht den Populisten so erfolgreich? Diese Fragen beantwortet Stephan Bierling, Politologe und US-Experte, im Gespräch. Sein Buch "Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie" erscheint am 19. September 2024. t-online: Professor Bierling, wie außergewöhnlich ist der Rückzug Joe Bidens von der Kandidatur fürs Weiße Haus? Stephan Bierling: So etwas haben wir noch nie erlebt, so spät hat sich bislang niemand von der Kandidatur für das Präsidentenamt zurückgezogen. Das ist ein absolutes Novum in fast 240 Jahren amerikanischer Präsidentengeschichte. Amerika kann einen eben immer wieder überraschen. Die USA hatten in modernen Zeiten nur zwei Präsidenten, die eigentlich antreten wollten, aber dann doch zurückgezogen haben: Harry S. Truman und Lyndon B. Johnson hatten 1952 beziehungsweise 1968 in ersten Vorwahlen nicht so gut abgeschnitten wie erhofft und dann aufgegeben. Nun läuft es bei den Demokraten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Vizepräsidentin Kamala Harris hinaus. Wird die Übertragung der Kandidatur an sie reibungslos verlaufen? Es gibt kein Drehbuch für diesen Fall, weil er im normalen Prozess amerikanischer Wahlen so nicht vorgesehen ist. Aber ich denke, sie werden es schon hinbekommen. Wir müssen uns auch immer wieder vergegenwärtigen, dass dieser Auswahlprozess über Vorwahlen etwas relativ Neues ist. Bei den Demokraten hat es 1972 damit begonnen. Oft kam stattdessen eine sogenannte "vermittelte Kandidatenkür", eine "brokered convention", zum Einsatz. Die Parteigranden suchten in den einzelnen Staaten Kandidaten aus, man einigte sich dann irgendwann auf jemanden. Das klingt ein wenig undemokratisch? Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass die Basisdemokratie der Kern einer Demokratie ist. Aber damals hat es recht gut mit den "brokered conventions" funktioniert. Warum? Weil sich die Parteioberen in der Regel einen Kandidaten heraussuchten, von dem sie glaubten, dass er in den gesamten USA vermittelbar war. Die Anhänger einer Partei hingegen neigen durchaus dazu, eher Außenseiter und eher radikalere Kandidaten durchzusetzen. Das zeigte sich zum ersten Mal bei Jimmy Carter in den Siebzigerjahren, aber auch Barack Obama ist ein Beispiel dafür. Und Donald Trump? Ja, auch Donald Trump gehört auf diese Liste. Die Parteioberen der Republikaner wollten ihn bei der ersten Kandidatur eigentlich nicht. Die Öffnung des Auswahlprozesses hat also keineswegs zwangsläufig dazu geführt, dass die Parteien mit Kandidaten ins Rennen gehen, die dann auch landesweit mehrheitsfähig sind. Zumindest in die Nähe dieses Ziels muss Kamala Harris aber kommen, um Donald Trump zu schlagen. Hat sie das Zeug dazu? Hätte sich Biden früher im Jahr zurückgezogen, wäre das Feld der Bewerber weit offen gewesen. Dann hätten sich unterschiedliche Kandidaten erproben und zeigen können, wie sie auf nationaler Eben wirkten. Nun hat Harris einen gewaltigen Vorteil: Sie ist die einzige Kandidatin, die national erprobt ist, über einen gewissen Bekanntheitsgrad und über internationale Erfahrung aufgrund ihres Amtes als Vizepräsidentin verfügt. Sie bringt also gute Voraussetzungen mit, um Ihre Frage zu beantworten. Alles Weitere wird die Zukunft zeigen. An Kamala Harris scheiden sich bislang die Geister. In ihrer Amtszeit als Vizepräsidentin wurde ihr der Vorwurf der Unsichtbarkeit gemacht. Zu Unrecht? Als Vizepräsident der Vereinigten Staaten hat man es immer schwer. Die Zahl der Präsidenten, die ihre Vizepräsidenten wirklich mitspielen ließen, lässt sich nahezu an einer Hand abzählen. Der schon erwähnte Harry S. Truman war einst Vizepräsident unter Franklin D. Roosevelt, der ihn während des Zweiten Weltkrieges nicht einmal über die Pläne zum Bau der Atombombe unterrichtet hat. Harris hatte es sehr schwer, ein Thema zu finden, damit irgendwie zu reüssieren und dadurch ein Profil zu gewinnen. Mit dem höchst umstrittenen Thema Abtreibung könnten Harris und die Demokraten Trump sehr wohl das Wasser abgraben? Das könnte sich als ihr Gewinnerthema erweisen, ja, denn es polarisiert auch bei den Republikanern. Nachdem der Oberste Gerichtshof das alte Abtreibungsrecht aus den Siebzigerjahren gekippt hat, gab es in sechs Bundesstaaten Volksabstimmungen zur Abtreibung, darunter waren auch konservative Staaten wie Kentucky und Kansas. Die Abtreibungsbefürworter haben immer deutlich gewonnen. Neben den polarisierten Demokraten sind auch manche republikanische Frauen nicht glücklich darüber, wohin sie Trump mit seiner Ernennung erzkonservativer Richter geführt hat. Das Duell zwischen Trump und Harris könnte sich Hollywood ausgedacht haben. Auf der einen Seite der verurteile Straftäter Trump, auf der anderen eine frühere Staatsanwältin. Es droht ein Duell der Superlative. Straftäter gegen Juristin, ja, aber auch ein älterer Mann gegen eine wesentlich jüngere Frau. Dazu reklamiert Trump die Verkörperung eines "weißen Amerikas" für sich, während Harris mit ihrer Biografie für ein Amerika steht, das Migration als Gewinn betrachtet. Es lässt sich auch drastischer ausdrücken, Trump hat eine autoritäre Vorstellung von Demokratie, während Harris' auf Inklusion und Vielfalt beruht. Der Republikaner Trump wird Harris als Vertreterin des sogenannten Establishments angreifen, so wie er es 2016 mit Hillary Clinton getan hat. Trump ist der Außenseiter, er ist eigentlich gar kein Politiker. Früher war er Showstar und Unterhalter, jetzt ist Trump Kultführer geworden. Das macht ihm die Sache leichter. Die Demokraten sind eine heterogene Partei, sie braucht den innerparteilichen Kompromiss. Die Flügel zusammenhalten, das konnte Joe Biden. Die Republikaner hingegen sind nun eine Glaubensbewegung, Trump ist ihr Messias. Gerade nach dem gescheiterten Mordanschlag. Sie halten ihn wirklich für den Gesalbten, die evangelikalen Christen sind seine stärkste Unterstützergruppe. Trump ist nun wahrlich kein Heiliger? Das ist ihnen völlig egal. Sie sprechen von ihm als dem antiken Perserkönig Kyros, Trump soll sie als Werkzeug Gottes auf den Weg ins gelobte Land bringen. Dass Trump nicht gläubig ist, wirkt da nebensächlich. Seine Wahlkampfauftritte enden mittlerweile mit fast so etwas wie einer religiösen Andacht. Trump sagte mal, er würde von den Eliten, Medien und Demokraten verfolgt wie einst Jesus Christus. Das ist schon starker Tobak, damit muss man erst mal durchkommen. Trump appelliert weniger an den Intellekt als an die Emotionen seiner Anhänger beziehungsweise Gläubigen. Ist das sein Erfolgsrezept? Die Emotion ist in die Politik zurückgekehrt. Das hat Trump viel besser verstanden als andere. Ein Phänomen, das nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt ist. Nehmen wir den Brexit – das war im Grunde ein Glaubenssatz. Wann kehrt die Emotion aber in die Politik zurück? Wenn die Menschen Angst haben. Das haben die beiden großen Parteien der USA übersehen, vor allem die Demokraten, aber auch die ehemaligen Volksparteien hier bei uns ins Deutschland. Und das in einer Zeit, in der nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche einen tiefgreifenden Wandel durchleben. Die Konkurrenz aus China , der technologische Wandel, der manche Berufe geradezu entwertet, sind da nur zwei Beispiele. Worin bestand der grundlegende Fehler dies- und jenseits des Atlantiks? Noch nie gab es einen so rapiden Wandel in der Menschheitsgeschichte. Die daraus entstehenden Emotionen wahrzunehmen und darauf zu reagieren, wäre Teil einer klugen Politik gewesen. Heutige Politiker sind meist viel zu technokratisch und glauben im Grunde immer an die rationale Lösung. Das spricht viele Menschen aber nicht an, nimmt sie nicht mit. Bei uns profitiert die AfD davon, zum Teil das Bündnis Sahra Wagenknecht , darin besteht auch das Erfolgsgeheimnis von Marine Le Pen in Frankreich . Aber die agieren alle nicht auf dem Niveau eines Instinktpolitikers wie Trump. Aber alle Populisten betrachten ihn als Lehrmeister? Trump ist auf gewisse Weise weltweit und auch in der amerikanischen Geschichte einmalig, weil er diesen Unmut in der Bevölkerung kanalisieren, anfachen und davon profitieren kann wie niemand vor ihm. Er ist kein Genie, dieser Begriff ist allgemein immer mit hoher Rationalität verbunden, aber Trump hat einen genialen Bauchinstinkt. Schauspielert Trump oder ist er wirklich so? Innerlich ist Trump ziemlich ängstlich und unsicher. Aber er spielt seine Rolle mittlerweile so perfekt, dass man die wahre Persönlichkeit nicht mehr erkennen kann. Sein Vorgänger Ronald Reagan war ursprünglich Schauspieler, bei ihm wusste man stets, wann er für die Kamera sprach. Aber Trump liebt seine Auftritte, er lebt mit und für das Fernsehen. Das hat man ja auch an der hochgereckten Faust direkt nach dem Anschlag auf ihn gesehen. In dieser mit Bildern durchfluteten Gesellschaft ist so etwas viel wichtiger, als manche anerkennen wollen. Joe Biden gab beim TV-Duell hingegen eine ziemlich schlechte Figur ab. Wird Trump Bilden in gewisser Weise als Gegenkandidaten vermissen? Biden wäre Trumps absoluter Lieblingsgegner gewesen – mit seinen offensichtlichen physischen und mentalen Problemen. Das TV-Duell am 27. Juni war ein solches Desaster, dass sich die Republikaner die Hände gerieben haben. Das konnte Biden nicht überleben. Harris wird wahrscheinlich wesentlich schwerer angreifbar sein. Aber sie wird mit der Regierung Biden assoziiert, deswegen sind die Karten nur zum Teil neu gemischt. Dann haben die Demokraten noch ein weiteres Problem. Welches? In den vergangenen 16 Jahren waren die Demokraten – bis auf die vier Jahre Trump – an der Macht. Sie sind daher aus verständlichen Gründen thematisch erschöpft. In solchen Zeiten haben Außenseiter größere Chancen. Der Außenseiter Trump ist mittlerweile selbst 78 Jahre alt. Trump ist noch recht vital, aber seine Aussetzer werden größer. Bei der Rede nach seiner Nominierung führte er die Zuhörer geradezu ins Nirwana. Ob das seinen Anhängern tatsächlich etwas ausmacht, weiß ich nicht. Aber es ist eine Chance für die Demokraten. Professor Bierling, vielen Dank für das Gespräch.