Spanien oder England: Wer wird Europameister 2024? t-online-Kolumnist Stefan Effenberg spricht über seinen Favoriten, verrät seinen Spieler des Turniers – und erklärt, worauf sich die Fußballwelt freuen kann. Spanien gegen England – ich freue mich auf das EM-Endspiel am Sonntag, aber ich muss auch sagen: Eine Vorhersage fällt mir enorm schwer, gerade nach den Eindrücken aus den Halbfinals. Es war spannend zu sehen, wie die Spanier gegen Frankreich erneut nach einem Rückstand zurückgekommen sind. Schon gegen Georgien war die Mannschaft früh in Rückstand geraten, konnte die Partie aber noch souverän drehen. Frankreich war aber natürlich ein ganz anderer Gegner, und eigentlich hätte der Führungstreffer der "Équipe Tricolore" in die Karten spielen müssen. Aber: Kylian Mbappé konnte erneut sein Leistungsvermögen, das er im Verein gezeigt hat, nicht abrufen, Ousmane Dembélé ebenso wenig. Und die Spanier wiederum haben das nach dem Rückstand hervorragend gemacht. Sie sind nicht nervös geworden, konnten den verletzten Pedri und den gesperrten Dani Carvajal ohne Qualitätsverlust ersetzen – und haben dann auch noch das Kunststück fertiggebracht, gegen Frankreich innerhalb von vier Minuten das Spiel zu drehen. Das Tor zum 1:1 von Lamine Yamal war das schönste des Turniers. Erneut konnte zudem auch Dani Olmo der Partie seinen Stempel aufdrücken. Bei wirklich jedem Auftritt hat er seine Qualität bewiesen – nicht nur im Spiel gegen Deutschland. Unterm Strich war das 2:1 also verdient, und es kann keine zwei Meinungen geben: Spanien steht zu Recht im Finale dieser Europameisterschaft. Die Engländer haben ihre wahren Fähigkeiten gezeigt Überrascht war ich dagegen vom Auftritt Englands gegen die Niederlande. Das war eine richtige Leistungsexplosion. Da waren die "Three Lions" in der Offensive sehr, sehr stark, besonders Phil Foden konnte auffallen. Dass sie defensiv sicher stehen, das haben sie – auf Kosten attraktiven Spiels – bereits im bisherigen Turnierverlauf bewiesen. Nun aber konnten wir auch sehen, was offensiv, was in Mittelfeld und Angriff eigentlich in ihnen steckt. Endlich haben sie ihre wahren Fähigkeiten gezeigt – und das auch noch zum genau richtigen Zeitpunkt im Halbfinale. Eine Anmerkung übrigens noch zu den Diskussionen um den Elfmeter, den Schiedsrichter Felix Zwayer für England gab: Denzel Dumfries kommt zu spät, hält den Fuß drauf, trifft Kane – das ist für mich ein Strafstoß. Vielleicht entzündete sich der Ärger eher an der Person Zwayer. Das finde ich unfair. Er hat eine gute Leistung gezeigt und lag für mich in dieser Situation auch genau richtig. Wie beide Mannschaften nun ins Finale gehen sollten? Es klingt einfach: Eigentlich besteht weder bei Spanien noch bei England Anlass, etwas zu ändern. Beide sollten genau da weitermachen, wo sie im Halbfinale aufgehört haben. Ich glaube aber, dass es ein sehr taktisch geprägtes Spiel werden wird. Es wird darauf ankommen, welche Mannschaft am Sonntag ihre Unterschiedsspieler in Topform aufbieten kann – und wer den ersten Fehler macht. Ich tendiere zu Spanien als Favorit – aber der große Hunger wird auch bei den Engländern da sein. Europameister waren sie noch nie, der einzige WM-Titel ist jetzt 58 Jahre her – die Spieler wissen doch auch, dass sie nun eine ganz, ganz große Geschichte schreiben können. Das sollte Motivation genug für sie sein, da braucht Trainer Gareth Southgate eigentlich gar nichts mehr zu sagen. Und ein wichtiger Unterschied zu den vergangenen Jahren: Bei den letzten Turnieren standen zwar immer auch große Namen im Aufgebot, eine richtige Mannschaft bildete sich dabei aber nie heraus – im Unterschied zu heute. Und trotzdem können sie sich auch weiter auf ihre individuelle Klasse verlassen. Das war vielleicht nicht immer schön anzusehen, aber: Jude Bellingham erzwang mit seinem Tor die Verlängerung im Achtelfinale gegen Slowenien, Kane sorgte dann für die Entscheidung, Bukayo Saka traf zum Ausgleich in der darauffolgenden Runde gegen die Schweiz. Das ist in dieser Mannschaft drin. Wichtig zudem, dass sie auch eine ihrer großen Ängste ablegen und die Schweizer im Elfmeterschießen besiegen konnten – gerade in Erinnerung an das fast traumatische Endspiel 2021 gegen Italien. Wie Ronaldo oder Messi In individueller Klasse steht Spanien England aber in nichts nach, im Gegenteil: Ein Yamal, ein Nico Williams – das sind Spieler, die Spaß machen, die man sich einfach gerne anschaut. Ein anderer Spanier ist aber mein Spieler des Turniers, ganz unabhängig vom Ausgang des Endspiels: Rodri. Diese Sicherheit, diese Stabilität, die er seiner Mannschaft aus dem Mittelfeldzentrum heraus gibt – das ist herausragend, das ist Weltklasse. Ein Yamal mit seinen 16, 17 Jahren, der braucht nicht nur die Pässe, der braucht auch die Erfahrung solcher Mitspieler – so lernt er wirklich jeden Tag dazu. Wenn er auf dem Boden bleibt, dann hat der Fußball wieder ein Jahrhunderttalent wie Ronaldo oder Lionel Messi . Ein weiterer ganz wichtiger Faktor: Trainer Luis de la Fuente, der einige seiner heutigen Spieler noch aus den U-Nationalmannschaften kennt – nicht nur auf dem Platz, auch menschlich. Er weiß, wie sie sich charakterlich entwickelt haben, sie sind vor seinen Augen groß geworden. Das ist ein ganz großes Plus. Auch deshalb gibt er einem Teenager wie Yamal die Chance in der Startelf, weil er genau weiß: Er kann das, er ist dazu in der Lage – sowohl sportlich als auch mental. Yamal, Williams, ein Pedri, auch ein Gavi, der die EM ja leider verletzungsbedingt verpasst hat – da sind viele Spieler dabei, die ihre besten Zeiten noch weit vor sich haben. Auch Nicht-Spanien-Fans müssen doch gespannt sein, diese Entwicklung mitzuverfolgen und schon in zwei Jahren bei der nächsten WM zu sehen, wie das weitergeht. Alles deutet darauf hin: Diese Mannschaft wird den nächsten zwei, drei Turnieren ihren Stempel aufdrücken. Und darauf können wir uns freuen.