Annalena Baerbocks Besuch in Syrien sorgt weiter für Diskussionen: Der neue Machthaber Ahmed Al-Sharaa gab der deutschen Außenministerin nicht die Hand. Ist das ein Skandal?
Vergangene Woche war Außenministerin Baerbock in Syrien. Warum hat der neue Machthaber Ahmed Al-Sharaa ihr nicht die Hand gegeben?
Das hat nichts mit Islamismus oder Dschihadismus zu tun. Konservative Muslime geben Frauen häufig – nicht immer – nicht die Hand und legen sie stattdessen respektvoll auf ihr Herz. Und das ist ja genau das, was Ahmed Al-Sharaa getan hat. Ist das respektlos? Das kommt auf die Perspektive an.
Auf die Perspektive?
Aus der Sicht eines konservativen Muslims ist das, was Al-Sharaa getan hat, eine Geste des Respekts. Aus der Sicht eines kulturell anders geprägten Europäers oder einer Europäerin mag das ungewöhnlich sein oder gar als respektlos empfunden werden.
Welches Bild von Frauen und Männern führt dazu, dass sich unterschiedliche Geschlechter nicht die Hand geben können?
Es ist tatsächlich nicht nur im Islam so, dass manche Männer Frauen nicht die Hand geben. Oder eben auch andersherum – Frauen nicht Männern. Auch bei orthodoxen Juden und Jüdinnen kann das der Fall sein, und im konservativen Christentum sind Berührungen teilweise auch schwierig. Das ist ein konservativ-religiöses Menschen- und Weltbild, in dem man davon ausgeht, dass jede Berührung zwischen Mann und Frau schon sexuelle Gefühle auslösen könnte. Das ist natürlich bei so einem Staatsempfang nicht wörtlich der Fall, aber Teil dieses kulturellen Habitus.
Der Empfang lief offenbar trotzdem gut – Annalena Baerbock meinte anschließend, sie habe gar keinen Handschlag erwartet.
Journalisten haben berichtet, dass Baerbock vorbereitet war und daraus auch keinen Vorwurf gemacht hat. Das heißt, sie war gut gebrieft. Es ist ein bisschen verwunderlich, dass wir uns auf so eine Kleinigkeit konzentrieren, wenn es eigentlich um so viel größere Themen geht. Der neue Machthaber Ahmed Al-Sharaa muss zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb seiner eigenen Koalition austarieren. Er ist in einem politischen und militärischen Bündnis, in dem es noch radikalere Kräfte gibt. Er versucht momentan, verschiedene Interessen und auch verschiedene Weltanschauungen irgendwie zusammenzuhalten.
Syrischer Telegramdienst verpixelt Baerbock und Dolmetscherinnen auf Fotos 12.01
Klingt nach einem Drahtseilakt.
Wir im Westen haben vor dreizehn Jahren die gemäßigten Kräfte eines möglichen Wandels im Stich gelassen. Jetzt sind es plötzlich andere, die Syrien befreit haben. Wenn wir in die Welt schauen, gibt es sicherlich mehrere Staatsführer, die eine Politikerin aus dem Ausland nicht mit Handschlag empfangen würden. Mit denen haben wir trotzdem gesprochen. Wenn wir uns überlegen, dass Politikerinnen im Iran und in anderen Ländern mit Kopftuch erschienen sind – dann fand ich es gut, dass niemand, nicht die Übersetzerin, auch nicht Ministerin Baerbock, im Kopftuch erschienen ist, sondern dass die Delegation hier selbstbewusst und nicht im vorauseilenden Gehorsam aufgetreten ist. Denn Damaskus ist nicht Teheran oder Kabul.
War der Besuch denn richtig aus Ihrer Sicht?
Wir haben alle keine Glaskugel. Wir wissen nicht, wohin sich Syrien entwickelt. Aber ich denke, dass der Besuch der Außenministerin und des französischen Außenministers ein wichtiger Akzent zur richtigen Zeit und auch ohne Handschlag zu rechtfertigen ist.
Was wollten die beiden mit ihrem Besuch erreichen?
Das, was die meisten internationalen Politiker, die jetzt nach Damaskus reisen, auch versuchen. Nämlich Kontakt aufzunehmen, relativ schnell auch diesen Wandel, der gerade in Syrien stattfindet, mit zu beeinflussen. Aber: Ein Syrien, das erneut in Chaos und Gewalt abdriftet, wird kein Syrien sein, in dem man Frauenrechte, Minderheitenrechte, eine zivile Gesellschaft oder Verbesserungen der Regierungsführung erreichen kann. Das heißt, man kann die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Situation in Syrien nur verbessern, wenn das Land stabil ist. Wir müssen in Phasen denken. Und in der ersten Phase braucht jedes Land in Transition Stabilität als Ausgangsbasis.
Interview Perthes Handschlag Baerbock 18.15
Und wenn diese Phase der Stabilisierung vorbei ist?
Danach müssen Forderungen nach universellen Werten und Menschenrechten sowie einer vom Volk legitimierten Regierung immer lauter werden. Und da spreche ich wirklich nicht nur von ausländischen Akteuren, sondern in erster Linie von Syrern selbst. Auch die, die bei uns wohnen, die jetzt viele Jahre Demokratie und Rechtsstaat erlebt haben. Viele haben mich kontaktiert, sind jetzt zurückgegangen nach Damaskus, um sich dort einzubringen. Jetzt liegt es an den Syrerinnen und Syrern, die Kontroversen vor Ort offen und fair untereinander auszutragen, welche die neue politische Freiheit möglich macht - um genau diese Freiheit jetzt nicht wieder herzugeben.