Nun steht es fest: Die Aufarbeitung der Corona-Politik durch den Bundestag ist erstmal vom Tisch, die Ampel konnte sich nicht auf ein Format einigen. Wie kann das sein?
Katja Mast holt weit aus, bevor sie den entscheidenden Satz sagt. Einen Satz, den sich noch niemand getraut habe zu sagen – der aber jetzt wohl mal gesagt werden müsse: "Es wird keine zusätzliche Aufarbeitung der Corona-Pandemie in dieser Legislaturperiode geben."
Im Marie-Juchacz-Saal des Bundestages wird es still. Die deutlichen Worte der SPD-Fraktionsmanagerin, die am Mittwochmorgen ihr traditionelles Pressefrühstück abhält, scheinen auch noch in ihr selbst zu arbeiten. "Ich bedauere das sehr", schiebt Mast hinterher.
Der Satz hat es in sich und er könnte fatale Folgen für die Ampel haben. Denn nun, eineinhalb Jahre nachdem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Pandemie für beendet erklärt hatte, ist klar: Die staatliche Corona-Politik wird nicht durch den Bundestag aufgearbeitet. Eine tiefergehende Beschäftigung mit der Frage, ob das damalige Handeln verhältnismäßig war, bleibt aus.
Es ist ein kolossales Scheitern der Koalition, das nach außen kaum zu vermitteln ist. Und es ist ein Geschenk für AfD und BSW, die der Ampel seit Längerem Vertuschung und Verschleppung in dieser Sache vorwerfen. Wie konnte das passieren? Diese Frage stellt sich jetzt in vielerlei Hinsicht.
Nachfrage bei Katja Mast. "Die Ampel-Parteien im Parlament sind in zentralen Punkten nicht zusammengekommen und konnten sich nicht auf ein geeignetes Format einigen", sagt sie dem stern. Das Zeitfenster habe sich geschlossen, inzwischen reiche die Zeit bis zur Bundestagswahl nicht mehr aus, um beispielsweise einen Bürgerrat einzurichten. Diesen habe die SPD mehrmals vorgeschlagen, betont Mast, auch die Grünen hätten sich dafür ausgesprochen. "Leider sind unsere Bemühungen an der FDP gescheitert, die diesen Weg nicht mitgehen wollte."
So sieht es jedenfalls die SPD. Aber ganz so einfach ist es natürlich nicht, so, wie es auch die Pandemie selbst nicht war.
Mit dem Ziel, Leben zu retten, verhängte die Politik damals weitreichende Maßnahmen. Ältere verbrachten ihre letzten Tage im Pflegeheim allein – ohne den Besuch ihrer Angehörigen. Kinder und Jugendliche durften über lange Zeit hinweg nicht in die Schule, manche hörten zu Hause nicht viel von ihren Lehrern. Ins Kino, Theater oder Freibad durften monatelang nur die, die zweimal geimpft oder mit einem Genesenen-Nachweis ausgestattet waren.
Schon damals gingen die Einschränkungen so manchem zu weit. Im Nachhinein halten auch damals Verantwortliche einzelne Maßnahmen für überzogen, etwa die Schulschließungen. Fest steht: In der Gesellschaft haben die Pandemiejahre Spuren hinterlassen.
In den vergangenen Monaten war der Druck für eine Aufarbeitung gestiegen. Ende März wurde wieder intensiver über Sinn oder Unsinn der damals verhängten Maßnahmen gestritten. Auslöser war die Veröffentlichung von Protokollen des Robert-Koch-Instituts, das die Bundesregierung in der Pandemie beriet. Das Online-Magazin "Multipolar", das Kritiker in der Nähe verschwörungserzählerischer Publikationen verorten, hatte auf deren Herausgabe geklagt.
Im Zuge dessen wurden die Rufe nach einer Aufarbeitung der Pandemie lauter. Mitte April sprach sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich für eine Aufarbeitung der Pandemie in einem Bürgerrat und einer neu zu schaffenden Kommission aus. Parlamentarier von SPD, Grünen und FDP verhandelten – doch sie verhakten sich. Man konnte sich nicht auf das Format einigen.
Auf dem Tisch lagen, vereinfach gesagt, zwei Formen: ein Bürgerrat und eine Enquete-Kommission. Für einen Bürgerrat werden Bürgerinnen und Bürger ausgelost, die sich unter Beratung von Experten mit einem Thema beschäftigen. In einer Enquete-Kommission, das französische Wort bedeutet "Untersuchung", sitzen nicht Bürgerinnen und Bürger, sondern Abgeordnete des Parlaments und Experten aus Wissenschaft und Praxis. Sie legen dem Bundestag Berichte vor, in welchen sie Empfehlungen für neue Gesetze abgeben. Eine solche Enquete gibt es beispielsweise zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr.
Über die Frage der Form gibt es vor allem zwischen SPD und FDP einen grundlegenden Dissens. Die SPD hatte sich für einen Bürgerrat eingesetzt. "Es hätte ein Forum gebraucht, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihre Alltagserfahrungen aus der Zeit der Pandemie adressieren können, die in dieser für uns alle belastenden Zeit entstanden sind", sagt SPD-Fraktionsmanagerin Mast dem stern. Dies hätte den Expertenrat der Regierung ideal flankiert, meint sie.
Die FDP hatte auf eine Enquete-Kommission gepocht, eine Art abgespeckter Untersuchungsausschuss. "Ein Bürgerrat kann ergänzen, aber er kann niemals verbindliche Schlüsse ziehen", sagte der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Andrew Ullmann, dem stern im Juni. "Es kann und darf nicht sein, dass wir als Parlamentarier die Verantwortung für das, was geschehen ist, an eine zusammengewürfelte Versammlung von Bürgerinnen und Bürgern abgeben."
Bei ihrem Ruf nach einer Enquete-Kommission ging es der FDP offenbar auch darum, Ländervertreter, die während der Pandemie unmittelbar Verantwortung trugen, kritisch befragen zu können. Schließlich fielen zu der Zeit viele wichtige Entscheidungen in der Ministerpräsidentenkonferenz der Länderchefs. Das löste bei den Sozialdemokraten offensichtlich Argwohn aus: Anders als die Liberalen stellt die SPD einige Ministerpräsidenten, ist an Landesregierungen beteiligt. Die Gefahr, dass die eigenen Leute in Verruf gebracht werden, ist bei diesem Format groß.
Zwar hätte auch aus Sicht der Sozialdemokraten eine Aufarbeitung nur Sinn ergeben, wenn diese auch "auf Augenhöhe gemeinsam mit den Bundesländern" stattgefunden hätte, wie Fraktionsmanagerin Mast sagt. Die SPD konnte sich zuletzt einen Zweiklang vorstellen: Bürgerrat und Enquete-Kommission. Allerdings konnte man sich offenbar nicht darauf verständigen, wie die Enquete besetzt worden wäre. Welche Ländervertreter sitzen mit am Tisch? Und wer hätte das letzte Wort gehabt?
Ursprung Corona-Pandemie 17.00
Die Grünen beteuern, am Ende für alle Optionen offen gewesen zu sein. Hauptsache, man bringe überhaupt etwas zustande. Am Dienstag sagte Co-Fraktionschefin Katharina Dröge, dass es "keine Schnittmengen" zwischen SPD und FDP gebe, wie die Aufarbeitung stattfinden solle. "Wir wären komplett offen gewesen für jedes Format."
Dass das nicht gelungen ist, ist nicht nur ein weiterer Tiefschlag für die Ampel, die sich an allen möglichen Stellen verheddert. Schwer wiegt, dass die Populisten aus diesem Scheitern Kapital ziehen könnten. Auf Bundesebene machen sie in der Frage schon gemeinsame Sache: Die AfD unterstützt einen Vorstoß des BSW, einen Corona-Untersuchungsausschuss einzuberufen.
Der hat zwar im Bund nicht viel Aussicht auf Erfolg. Anders aber sieht es in den Ländern aus, in welchen zuletzt gewählt wurde: In Sachsen etwa hat die AfD-Fraktion bereits einen Untersuchungsausschuss beantragt; und kann diesen auch aus eigener Kraft einsetzen. Sie stellt 40 der insgesamt 120 Abgeordneten und damit mehr als das nötige Fünftel. Auch das sächsische BSW will einen solchen Untersuchungsausschuss, und damit ein Versprechen aus dem Wahlkampf einlösen.
Die Botschaft der Populisten dürfte klar sein: Wir packen es an – weil es die Ampel nicht packt.