Mit ihrem Sachbuch "Want. Sexuelle Fantasien der Frauen im 21. Jahrhundert" will Serien-Star Gillian Anderson weibliche Fantasien aus der Tabuzone holen.
Eine Matrosin heuert auf einem Piratenschiff mit rein weiblicher Besatzung an. Die Piratinnen sind streitlustig, trinken Rum, tragen rote Korsagen über geschnürten Hemden. Eines Nachts gelangt die Matrosin in das Zimmer der Kapitänin. Flackernde Kerzen, nackte Körper. Eine Orgie auf hoher See. Die Frau, der dieses Szenario durch den Kopf geht, stammt aus England.
Groß, dunkelhaarig und nicht zu haben: Es ist der Bruder der besten Freundin, der eine Australierin beschäftigt: "Ich stelle mir vor, wie sein 17-Uhr-Bartschatten über meine Haut schabt. Über die Innenseiten meiner Schenkel. Wie meine Hände seine Haare zerzausen, während er mich gierig verschlingt."
Und eine andere Britin, die sich selbst als hetero bezeichnet, träumt davon, einen Sexkerker für Junggesellinnenabschiede zu eröffnen. In einem Separee bringt sie die Braut und deren Freundinnen zum Orgasmus. "Für alle wäre es eine Nacht der reinsten Ekstase, ein Fest weiblicher Lust."
Dass Schauspielerin Gillian Anderson solche Fantasien gesammelt hat und dazu weitere, die noch expliziter sind, geht auf die Netflix-Serie "Sex Education" zurück. Darin spielte sie die unfassbar coole Sexualtherapeutin Dr. Jean Milburn, die einen Teeniesohn hat, unter Bindungsängsten leidet und mit Ende 40 noch mal Mutter wird. Das scheint abgefärbt zu haben: Anderson brachte einen Softdrink namens "G-Spot" heraus, trug bei den Golden Globes eine Robe mit Vaginen drauf, und schon zur Vorbereitung auf die Rolle habe sie, so steht es im Vorwort, "My Secret Garden" von Autorin Nancy Friday gelesen – ein Konvolut an Sexträumen, das 1973 zum Bestseller wurde. Anderson wollte wissen, wie sich die erotischen Gedanken von Frauen seither verändert haben, und startete zusammen mit dem "Guardian" einen Aufruf: "Wo auch immer Sie herkommen, mit wem Sie schlafen oder nicht schlafen, ob Sie achtzehn oder achtzig Jahre alt sind: Schreiben Sie mir." Hunderte Frauen aus der ganzen Welt meldeten sich.
Und so wird in "Want" geleckt, geblasen und gerammelt, bis die Sicherungen rausfliegen. Eine gewisse Abstumpfung stellt sich ein, wenn man das alles am Stück herunterliest. Gut, dass es aber auch die Episoden gibt, aus denen einen die Realität anweht, und also das wahre Leben, das nicht nur dauersexy ist, umkreist wird.
Da erinnert sich eine Witwe an den Sex mit ihrem Mann, den sie seit seinem Tod schmerzlich vermisst. Eine andere möchte trotz körperlicher Behinderung ein "normales" Sexleben führen. Die Nächste erzählt, wie sie ihren Partner, der unter Depressionen leidet, immer wieder zu verführen versucht und sich letzterdings flüchtet, in nicht jugendfreie Märchenwelten. Es sind solche Stimmen, die diese Sammlung wertvoll machen, weil sie viel erzählen, über das Frausein von heute.
Verantwortung tragen, sich um Familie und Haushalt kümmern, dabei oft zu kurz kommen (ja, im doppelten Wortsinn), sich zu dick fühlen, zu alt. Der Wunsch danach, begehrt und geliebt zu werden, er steht da oft.
Und noch öfter geht es auch härter zu. "Want" strotzt vor Macht- und Unterwerfungsfantasien, vor BDSM, vor Fetischen. Eine junge Amerikanerin findet die Vorstellung geil, ihre Höschen in der Toilette hinunterzuspülen, eine andere berauscht sich an der Haptik des Türknaufs. Eine Story erzählt von Männern, die, als Vampire verkleidet, Menstruationsblut trinken. Anderson, die diese Texte kuratiert hat, scheint schmerzfrei bei der Auswahl. "Ich möchte unsere Fantasien von Tabus befreien", sagt sie. Der eigene Kopf sei ein wichtiger "Safe Space", wo man weder Scham noch Schuld zu empfinden brauche. Jedem Kapitel stellt Anderson einige Worte zur Einordnung voran, und irgendwo im Buch ist auch ein Text von ihr versteckt.
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Anderson selbst war, davon darf man ausgehen, schon Protagonistin in vielen Kopfkinos. Als Dr. Jean Milburn, als Kommissarin Stella Gibson in der Serie "The Fall" und nicht zuletzt wegen der Rolle, mit der sie berühmt wurde: Dana Scully in "Akte X". Damals, 1996, kürte FHM sie zur "Sexiest Woman in the World". Beim Interview mit dem Männermagazin sei sie erschöpft gewesen, habe einen Flanellpyjama getragen, ihre 18 Monate alte Tochter sei herumgekrabbelt, gesteht sie im Buch: "Mein Status in den Sexfantasien der FHM-Leser hatte damals wirklich sehr wenig mit meinem echten Leben zu tun."
Zu Zeiten von Nancy Fridays millionenfach verkaufter Sexfibel gab es noch keine Dauerverfügbarkeit von Nacktheit, von gefakter Schönheit, von Internetpornografie. Vielleicht ist deshalb die Sprache bei Anderson derber, sind die Szenen noch eindeutiger ausgeschmückt. Praktiken, über die damals kaum geredet wurde, wie Analsex, scheinen heutzutage beinahe Standard zu sein.
Sex mit Fremden an absurden Orten, Orgien: dereinst alles Kopfsache. 1973 stand Homosexualität in vielen US-Bundesstaaten noch unter Strafe, "lesbisch" war bei Friday eine eigene Kategorie. In "Want" sind die Geschichten von und mit queeren Personen ganz selbstverständlich, sie werden nicht hervorgehoben. Durchsucht man ein digitales Exemplar von "My Secret Garden" nach dem Begriff "trans", gibt es keinen Treffer. In Andersons Buch stammen gleich mehrere Berichte von trans Personen.
Bei Friday teilten Joans, Bonnies und Glorias ihre intimsten Gedanken, bei Anderson sind es namenlose Fremde. Genannt werden Nationalität, ethnischer Hintergrund, Jahreseinkommen, Religion, Beziehungsstatus und die sexuelle Orientierung. Dass bei den Texten keine Altersangaben stehen, ist klug, weil eine Fantasie spannend bleibt, egal, ob sie in einem 20- oder 80-jährigen Kopf spielt.
"Want" ist weder Aufklärungsbuch noch Ratgeber. Sondern eine (ziemlich heiße) Bestandsaufnahme, ein Dokument seiner Zeit, der Menschen und ihrer Begierden. Träumten Frauen Anfang der Siebziger von Robert Redford und Tom Jones, sind heute Harry Styles und Pedro Pascal "Sexkomplizen" im Geiste.
Auch eine Britin denkt an hüllenlose Prominente, an der Supermarktkasse etwa, von ihr heißt es: "Wenn sie demnächst eine vollkommene durchschnittliche Frau sehen, die mit einem leichten Lächeln an Ihnen vorbeigeht – dann könnte ich das sein."