Eine neue Studie rekonstruiert den Weg der Vogelgrippe Richtung Südpol. Das Virus nutzte "Trittsteine" und reiste mit Tieren. Experten fürchten nun um die großen Pinguin-Kolonien.
Bis vor wenigen Monaten galt die Antarktis noch als frei von der neuen Vogelgrippe: Zwar zirkuliert auch dort immer wieder Grippeviren – allerdings nicht die aggressive und erst seit 2020 bekannte H5N1-Variante. Während die in Südamerika bereits Zehntausende Seelöwen und See-Elefanten mit ihren Jungtieren dahinraffte, während Bauern in den USA um infizierte Milchkühe bangten und Geflügelbestände und Millionen Wildvögel in Asien, Europa und Amerika dahinsiechten, warteten Experten noch bang auf die schlechte Nachricht vom Südpol.
Die kam im Februar 2024: Da wiesen argentinische Forscher das Virus erstmals auf der Antarktischen Halbinsel nach, dem langen, gebogenen Nordzipfel des Kontinents. Gefunden wurde es in Kadavern von Braunen Skuas, den großen Raubmöwen der Antarktis, berühmt-berüchtigt für ihren Hunger auch auf Pinguinküken. Seit Februar reißen die Negativ-Botschaften nun nicht mehr ab: Immer wieder stoßen Wissenschaftler auf große Zahlen toter oder schwer kranker Vögel, nehmen Abstriche und Gewebeproben. Im März dokumentierte eine internationale Forscherexpedition Dutzende tote Skuas in einer Kolonie auf Beak Island. In zehn Kadavern der Raubmöwen fand sich das aggressive neue H5N1-Virus, dessen vollständiger Name etwas sperrig "H5N1 HPAIV (highly pathogenic avian influenza) der Klade 2.3.4.4b" lautet. Als Klade bezeichnet man einen Familienzweig im Stammbaum der Viren.
Da Skua-Raubmöwen sich nicht nur von Fisch, sondern auch von Pinguinküken ernähren und dazu in Brutkolonien einfallen, befürchten Wissenschaftler nun, dass auch die Möwen das Grippe-Virus in die riesigen, dicht gedrängten Massenansammlungen der Pinguine tragen könnten. Auf Heroina Island am äußersten Nordzipfel der Antarktischen Halbinsel scheint der Erreger schon bei Pinguinen angekommen zu sein: Dort zählten Expertinnen und Experten im Frühjahr 532 tote Adèlie-Pinguine. Küken wie erwachsene Tiere waren offenbar in sehr kurzer Zeit verendet. Da auch auf anderen Inseln ungewöhnlich viele Pinguin-Kadaver lagen, rechneten die Forscher hoch, dass Tausende gestorben sein mussten. Auch wenn die Analysen noch andauern, halten Wissenschaftler es für plausibel, dass die neue aggressive Vogelgrippe diese Tiere dahinraffte.
Unklar war bisher, wie das aggressive Virus überhaupt in die entlegene Antarktis gelangte. Diesen Weg des Krankheitserregers rekonstruiert nun erstmals eine Analyse, die gerade im Wissenschaftsjournal Nature Communications erschien. Auf mehreren Inseln zwischen der Spitze Südamerikas und dem antarktischen Kontinent hatten britische Forscher schon ab 2022 Abstriche von kranken Tieren genommen, Gewebe von Kadavern eingesammelt und in den Proben nach Vogelgrippe-Erbgut gefahndet. "Am 8. Oktober 2023 fanden wir zum ersten Mal H5N1 HPAIV in Proben von Braunen Skuas auf Bird Island, das zu Südgeorgien gehört", schreibt das Team um den britischen Virologen Ashley Banyard von der britischen Animal and Plant Health Agency.
Unabhängig davon bestätigte sich auch noch eine zweiter Route, die das Virus Richtung Antarktis nahm: Auf den weiter westlich gelegenen Falkland-Inseln ließ sich H5N1 in Silbersturmvögeln und Schwarzbrauen-Albatrossen nachweisen. Am Ende listeten die Forscher acht infizierte Arten von Wildvögeln und Robben der beiden Inselgruppen. Besonders tödlich schien das Virus dabei für Südliche See-Elefanten, Antarktische Seebären und Braune Skuas zu sein.
Auch den Stammbaum des Virus nahmen die Forscher unter die Lupe und fanden heraus, dass die Viren alle aus Südamerika stammten. Die Erreger waren wahrscheinlich von Zugvögeln oder anderen weit wandernden Seevögeln in die Antarktis eingeschleppt worden und hatten dabei die abgelegenen Inseln wie "Trittsteine" im Meer genutzt.
Für die Antarktis, speziell für ihre großen Pinguinkolonien, könnte der Einbruch von H5N1 zur Katastrophe werden: Fünf der weltweit achtzehn Pinguinarten bewohnen das antarktische Festland, seine Schelfeisränder und Inseln: der riesige Kaiserpinguin, außerdem die kleineren Zügel-, Esels-, Goldschopf- und Adélie-Pinguine. Keine dieser Arten dürfte bisher nennenswerte Immunität gegenüber dem neuen H5N1-Virus besitzen, einige Biologen befürchten daher, dass ganze Kolonien sterben oder die Brut eines Jahres verlieren könnten.
Viele Pinguine stehen ohnehin schon unter Druck, so der Veterinär Horst Bornemann. Er arbeitet für die Forschungssektion Benthosökologie am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und ordnete die neue Studie als unabhängiger Experte für das deutsche Science Media Center in Köln ein: "Der Klimawandel hat bereits zu Bestandsveränderungen einzelner Pinguinarten wie Adélie, Esels-, und Zügelpinguinen im Gefolge von Veränderungen im Nahrungsnetz geführt." Auch bei den Kaiserpinguinen würden Bestandsverschiebungen entlang der Schelfgebiete im Südlichen Ozean beobachtet, die Gebiete besonderer ökologischer Relevanz verlagerten im Zuge des Klimawandels immer weiter nach Süden. Die Brut- und Rastgebiete der Pinguine schrumpfen seit Jahren.
Viel ausrichten gegen den neuen Vormarsch des Virus Richtung Südpol können Wissenschaftler bislang nicht: "Das H5N1-HPAI-Virus wird sich wahrscheinlich weiter in der antarktischen Tierwelt ausbreiten und möglicherweise die 48 Vogel- und 26 Meeressäugerarten infizieren, die in dieser Region leben", sagt Thijs Kuiken, Professor für vergleichende Pathologie am Erasmus Universitätsklinikum Rotterdam und ebenfalls nicht an der britischen Studie beteiligt.
Neben Adélie-Pinguin wurden inzwischen auch infizierte Weißgesicht-Scheidenschnäbel und Wanderalbatrosse gefunden. Und die Antarktis dürfte auch nicht die letzte Station für die neuen Vogelgrippe sein: "In Australien und Neuseeland bereiten sich die Behörden auf die Einschleppung des HPAI-Virus H5N1 entweder aus der Antarktis oder aus Asien vor, indem sie Simulationen durchführen und in Gefangenschaft lebende gefährdete Vogelarten gegen das Virus impfen", so Thijs Kuikens.
Eine großflächige Impfung der wilden Pinguine scheint dagegen momentan ausgeschlossen. Zu groß wäre wohl der Schaden, wenn die scheuen Vögel versuchen würden, in Panik vor den Wissenschaftlern und ihren Spritzen zu fliehen.