Der Fund von sechs toten Geiseln hat für Wut und Entsetzen gesorgt und Proteste gegen die Regierung in Israel neu entfacht. Ob Netanjahu damit zum Einlenken bewegt werden kann, ist jedoch fraglich.
Nach dem Fund der Leichen von sechs Geiseln im Gazastreifen hat sich in Israel der Druck auf Benjamin Netanjahus Regierung noch einmal massiv verstärkt. Ein großer Proteststreik sowie die größten Massenproteste in Tel Aviv seit Kriegsbeginn sollten Regierungschef Benjamin Netanjahu dazu bewegen, einen Deal mit der islamistischen Hamas zur Freilassung der verbliebenen Geiseln einzugehen. Unterstützer der Regierung kritisierten, die Protestbewegung spiele damit der Terrororganisation Hamas in die Hände und ermutige diese nur zur Beibehaltung einer harten Verhandlungsposition. Ein Arbeitsgericht ordnete am Montagmittag ein vorzeitiges Ende des Streiks an, weil dieser politisch motiviert sei.
Die israelische Armee hatte am Sonntagmorgen bekanntgegeben, dass kurz zuvor sechs Geisel-Leichen in einem unterirdischen Tunnel im Süden des Gazastreifens entdeckt worden waren. Das israelische Gesundheitsministerium teilte nach Medienberichten mit, die Geiseln seien etwa 48 bis 72 Stunden vor der Autopsie der Leichen aus nächster Nähe erschossen worden. Ein Hamas-Sprecher sagte dagegen, die Geiseln seien durch israelisches Bombardement ums Leben gekommen.
Getötete Geisel hatte deutsche Familie
Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes nannte die Ermordung von sechs weiteren Geiseln der Hamas "schier unerträglich". Darunter habe sich auch eine "Person mit deutscher Familie" befunden. Auf Nachfrage hieß es, dass es sich nicht um eine Person mit deutscher Staatsangehörigkeit handele, sondern die Familie einen Bezug zu Deutschland habe. Die Schwägerin der getöteten Geisel Carmel Gat hat neben der israelischen auch eine deutsche Staatsangehörigkeit. Yarden Romann-Gat war Ende November von der Hamas im Rahmen eines Abkommens mit der israelischen Regierung freigelassen worden.
Der israelische Außenminister Israel Katz kündigte nach dem Tod der sechs Geiseln eine harte Reaktion an. "Die Terrororganisation Hamas hat sechs Geiseln brutal hingerichtet, um Angst zu säen und zu versuchen, die israelische Gesellschaft zu spalten", schrieb Katz auf X. "Israel wird mit voller Wucht auf dieses schändliche Verbrechen reagieren. Die Hamas ist verantwortlich und wird den vollen Preis zahlen."
Flughafenbetrieb gestört
Aus Protest gegen den schleppenden Verlauf der Verhandlungen über eine Freilassung von 101 verbliebenen Geiseln streikten die Beschäftigten vieler Organisationen und Behörden. Viele Städte und Gemeinden schlossen sich dem Protest an, andere verweigerten dies, weil sie eher der Regierung nahestehen.
Beim Flugverkehr auf dem internationalen Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv kam es nach Medienberichten zu Störungen und Verzögerungen, obwohl die Flughafenbehörde mitgeteilt hatte, alles werde planmäßig verlaufen.
Ein israelisches Arbeitsgericht wies den Gewerkschafts-Dachverband jedoch an, den landesweiten Proteststreik, der eigentlich 24 Stunden dauern sollte, um 14.30 Uhr Ortszeit (13.30 Uhr MESZ) zu beenden. Die Richterin Hadas Jahalom habe eine entsprechende einstweilige Verfügung verhängt, berichteten israelische Medien übereinstimmend. Als Begründung habe sie erklärt, es handele sich um einen "politischen Streik". Sie folgte damit einem Antrag des Finanzministers Bezalel Smotrich. Smotrich lehnt ebenso wie der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben Gvir Zugeständnisse an die Hamas ab und drohte Ministerpräsident Netanjahu mehrfach mit dem Platzen der Regierung.
Zusammenstöße in Tel Aviv
Bei den größten Massenprotesten seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast elf Monaten forderten Demonstranten am Sonntagabend ein sofortiges Abkommen. In Tel Aviv und anderen Städten kam es in der Nacht teils zu Zusammenstößen mit der Polizei. Nach Polizeiangaben wurden 29 Menschen festgenommen.
Teilnehmer der Protestkundgebung blockierten am Abend eine zentrale Schnellstraße. Medienberichten zufolge warfen sie Steine, Zäune, Nägel und Metallgegenstände auf die Fahrbahn, entzündeten ein Feuer und schossen Feuerwerkskörper in die Luft. Die Polizei habe die Straße schließlich geräumt und dabei Blendgranaten eingesetzt.
"Wir werden sie nicht im Stich lassen", skandierten Demonstranten in Tel Aviv mit Blick auf das Schicksal der Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Islamisten befinden. Sie marschierten mit blau-weißen Nationalflaggen auf zentralen Straßen der Stadt. Auf einer Bühne waren symbolisch die Särge der sechs getöteten Geiseln aufgebahrt.
Verhandlungen treten auf der Stelle
Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas, bei denen neben den USA auch Katar und Ägypten als Vermittler fungieren, kommen seit Monaten nicht von der Stelle.
Nach Informationen der "Washington Post" wollen die Vermittler den Konfliktparteien in den kommenden Wochen ein letztes Mal einen Vorschlag für ein Abkommen vorlegen. Sollten beide Seiten auch diesen wieder nicht akzeptieren, könnte es das Ende der Verhandlungen bedeuten, wurde ein ranghoher Beamter der Regierung von US-Präsident Joe Biden zitiert. Der Fund der toten Geiseln in Gaza habe die Dringlichkeit eines Abkommens gezeigt.
Hauptstreitpunkt bei den Verhandlungen ist derzeit die Frage, wie lange israelische Truppen am Philadelphi-Korridor im Süden Gazas an der Grenze zu Ägypten stationiert bleiben dürfen. Israels Sicherheitskabinett entschied kürzlich, an der Kontrolle des Korridors festzuhalten. In einer Erklärung der Angehörigen der Entführten hieß es dazu, Netanjahu und seine Koalitionspartner hätten damit beschlossen, das Abkommen über eine Waffenruhe für den Korridor "zu torpedieren, und verurteilen die Geiseln damit wissentlich zum Tod".
Polio-Impfkampagne für Kinder läuft
Nach Beginn einer Impfkampagne im Gazastreifen sind nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums bereits mehr als 72.000 Kinder gegen das Poliovirus geimpft worden. Nachdem es kürzlich den ersten Fall von Kinderlähmung seit 25 Jahren in dem umkämpften Küstenstreifen gegeben hatte, sollen nach Angaben der WHO rund 640.000 Kinder gegen das hochansteckende Virus immunisiert werden. Üblicherweise werden zwei Impfdosen im Abstand von vier Wochen verabreicht.
Während der am Sonntag begonnenen Impfkampagne, die gut eine Woche dauert und auf andere Teile Gazas ausgeweitet werden soll, wollte Israels Armee nach eigenem Bekunden zeitlich und örtlich begrenzte Kampfpausen einhalten.
Auslöser des Gaza-Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels mit mehr als 1.200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober vergangenen Jahres im israelischen Grenzgebiet verübten. Seither ist die Zahl der in dem Krieg in Gaza getöteten Palästinenser nach Angaben der - von der Hamas kontrollierten - Gesundheitsbehörde in dem Küstengebiet auf mehr als 40.700 gestiegen. Die Zahl unterscheidet nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten und lässt sich kaum überprüfen.