Im Urlaub sucht unsere Kolumnistin Ruhe und findet sich selbst, ganz ohne Anleitung. Warum kann es nicht immer so sein?
Es braucht den Sommer, türkisblaues Meer und einige Wochen unter Pinienbäumen, bis ich mich denken höre: Da sein reicht. Ins Weite sehen, Kiefern riechen, barfuß über die Straße gehen reicht. Freundlich wegsehen, wenn Touristen zu nackt und zu dicklich zum Strand spazieren. Ich bin viel zu entspannt, um darüber zu lästern. Jahr um Jahr verspreche ich mir in den Ferien, dass ich, so wie ich bin, reichen werde und dass die kleinen Dinge zählen. Doch fängt der Alltag wieder an, verwandle ich mich bald wieder in den gehetzten Menschenroboter, der ich vor dem Urlaub war.
Es gab eine Zeit, da habe ich diesen biblischen Satz von den Vögeln geglaubt: So wie der himmlische Vater für die Vögel des Himmels sorgt, so sorgt er für euch! Sorge dich nicht, neudeutsch: Chill mal! Heute scheint es für viele nur noch im Urlaub eine Art Gott zu geben, der für uns sorgt, und das nur, wenn man ordentlich vorgearbeitet hat. Niemand vertraut mehr dem biblischen Versprechen. Fast jeder denkt, er sei seines Glückes Schmied. Allerdings gleichen die meisten dabei eher gestressten Akkordarbeitern als Sammlern von Kleeblättern.
Die Glücksschmiede von heute rennen der besten Version von sich selbst so lange hinterher, bis sie sich aus den Augen verlieren. Man will alles besser können: besser reden, arbeiten, schlafen, lieben. Es ist, als könnte der Mensch ohne Optimierung nicht mehr leben: Hier ein Tipp, da ein Coach, dort eine Messuhr. Isst du noch, oder fütterst du dich schon mit Proteinen? Auch das Essen, einst Genuss, ist ein Optimierungsschlachtfeld geworden. Wie hat es die Menschheit ins 21. Jahrhundert geschafft ohne die ganzen Ernährungsberater, die nicht von Huhn oder griechischem Joghurt reden, sondern Protein sagen müssen?
Und so toxisch, wie heute der Zucker ist, so toxisch sind auch die Menschen. Nicht mehr launisch, doof, alt oder stur, nein: toxisch. Sie haben entweder das Toxische an sich wegcoachen lassen – falls nicht, müssen sie aus dem Leben des Intoxikierten (Kind, Mann, Frau etc. im Reinigungsmodus) verschwinden. Neulich sah ich im Netz den Post eines Coaches, der riet, jede Situation zu verlassen, in der man „merkwürdige Vibes“ spüre oder „negative Energie“. In so einem Sagrotan-Ambiente soll alles gut sein? Als ich den Post teilte, schrieben mir viele: Wenn sie in solchen Momenten immer gingen, liefe in ihrem Leben gar nichts mehr. Meine Follower sind halt Realisten. Doch Coaches verkaufen dieses Weggehen als „Mental Health“. Gesund sind wir, wenn menschliche Fehlbarkeit keinen Platz mehr hat, wenn alle als Super-Ich nach innerer Arbeit voreinander sitzen.
Das Innenleben vieler Zeitgenossen ist ein Sammelsurium aus Imperativen und Optimierungsfantasien geworden. Arbeitsprozesse? Müssen optimiert werden! Dabei kommt Zustand A sowieso wieder, sobald wir mit B und C einmal durch sind. Auch privat hat jeder von uns gesunde Routinen zu pflegen, weil wir eingebläut bekommen haben, die altmodische Disziplin reiche nicht. Natürlich stehen die Coaches parat, um zu zeigen, wie man diese Routinen entwickelt. Der Mensch wird vermessen und optimiert, wo es nur geht; meistens bezahlt er eine Stange Geld, um Fehler zu beheben, die er ohne Messung gar nicht als Fehler erkannt hätte.
An einem schönen, entlegenen Strand fingen sie diesen Sommer auch schon an, morgens Entspannungskurse am Meer anzubieten. Nur sehen, riechen und dasitzen reicht nicht mehr. Man muss alles perfekt machen, unter Anleitung. Doch besser wird’s nicht, nur angespannter.