Der Umbruch in der Nationalmannschaft fällt größer aus als geplant. Für die Königsposition hat der Bundestrainer den erst 23 Jahre alten Angelo Stiller im Blick.
Die Nachrichten, die die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in den vergangenen Wochen zu Markte getragen hat, waren hübsch verpackt wie selten. Vor allem jene vom Produktionsstandort München: Manuel Neuer, der ewige Torwart, hatte eigens eine Deutschlandfahne ins Bild drapiert, als er per Videobotschaft mitteilte, dass nun doch Schluss sei nach 15 Jahren und 124 Länderspielen. Ohne Schleife zwar, aber mit Wortwitz garniert ("Ich sage dem Bundesadler Servus"), hatte sich zuvor schon Thomas Müller verabschiedet.
Und auch Ilkay Gündogan, seinerzeit noch in Barcelona ansässig, hatte sich Mühe gegeben. In getragenen Worten verkündete der Kapitän seinen Rücktritt, und wer den Text las, ahnte, dass dieser mindestens zehn Schleif- und Poliergänge hinter sich hatte. Es saß wirklich jedes Wort.
So formvollendet all diese Botschaften klangen, so ernüchternd mussten sie für Julian Nagelsmann gewesen sein. Denn dass der Bundestrainer nur wenige Wochen nach der Heim-EM eine ganz neue "Achse" bauen muss, wie das im Branchenvokabular heißt, war so nicht geplant. Diese Achse erstreckt sich von der Torhüter-Position (ehemals Neuer) über die Defensivzentrale (ehemals Kroos) bis zur Position zehn hinter den Spitzen (ehemals Gündogan). Über Nacht ist Trainer Nagelsmann also Lenkstange abgeschraubt worden, und jetzt muss er die Maschine wieder ins Laufen bringen. Und das möglichst schnell.
PAID Manuel Neuer Kommentar 20.00
Der Wettkampfkalender der Uefa kennt keine Atempause; nicht nur, dass der europäische Verband seine Champions League aufgebläht hat und die Klubs unter noch größeren Terminstress setzt, auch die deutsche Nationalmannschaft hat er in die Pflicht genommen. Bis Jahresende sind noch sechs Nations League-Spiele zu bestreiten, das erste bereits am Samstag kommender Woche gegen Ungarn.
Die Zeit ist knapp, der zu bewältigende Umbau groß – der klassische Trainerreflex wäre nun, erstmal neues Personal zu ordern. Julian Nagelsmann aber, und das ist eine Überraschung, nimmt nur minimale Änderungen am Kader vor. In seinem Aufgebot für die Partien gegen Ungarn und die Niederlande finden sich zwei Rückkehrer (Torwart Alexander Nübel und der defensive Mittelfeldspieler Aleksandar Pavlovic) und ein Neuling, Angelo Stiller vom VfB Stuttgart. Ansonsten ist der Kader nahezu deckungsgleich mit jenem, der eine starke Europameisterschaft im Juni und Juli gespielt hat.
Nagelsmann vertraut den Seinen, das ist das Signal. Er wird Spielern einen Startplatz geben, die sich bei EM der Reservistenrollen begnügen mussten wie etwa Marc-André ter Stegen, Pascal Groß oder Chris Führich. Die Königsposition im deutschen Spiel jedoch wird Nagelsmann mit einem Rookie besetzen. Angelo Stiller, 23, soll Toni Kroos nachfolgen, dessen Meisterschaft darin bestand, eine Partie zu lenken, obwohl er weit hinten stand, vor der Viererkette.
Kein deutscher Fußballer ist in den zurückliegenden Monaten so besungen worden wie Kroos. Er war der eine, der das ganze Land in seinem Rücken wusste. Der Weltbürger aus Madrid, sechs Champions League-Siege, der einzige Spieler, der die Nationalmannschaft adelte – und nicht umgekehrt das DFB-Team ihn.
Diesen Toni Kroos soll also ein junger Mann namens Stiller doubeln, der sich einst in der Nachwuchsakademie des FC Bayern nicht hatte durchsetzen können, sein Glück im kleinen Hoffenheim suchte und es erst in der vergangenen Saison beim VfB Stuttgart fand.
Eine Herkulesaufgabe, kaum zu schultern. Das war Nagelsmann schon im Mai bewusst, als Kroos noch spielte und Stiller noch gar nicht berufen war. Im Trainingslager in Blankenhain, Thüringen, sagte Nagelsmann: "Toni eins zu eins zu ersetzen, wird nicht möglich sein. Wir müssen das als Gruppe lösen."
Stiller darf Unterstützung erwarten in der kommenden Woche, wenn sich die Mannschaft in Herzogenaurach zum Lehrgang trifft, im Jahr eins nach Christus Kroos. Beim Spielaufbau wird ihm vor allem Nico Schlotterbeck assistieren, den es schon während der EM aus der Abwehrkette in die Offensive zog. Zudem wird Joshua Kimmich wieder mehr Verantwortung tragen und von der rechten Außenbahn ins Zentrum rücken.
Auch wenn sich viele helfende Füße um ihn sammeln werden: Angelo Stiller ist ein erstaunlich reifer Spieler für seine 23 Jahre. Beim VfB Stuttgart muss ihm niemand von den Alten sagen, was zu tun ist. Er hat diesen Instinkt fürs Spiel, das Gefühl, wann es eine taktische Umstellung braucht oder einen Rhythmuswechsel. Lernen kann man das nicht, es braucht viel Talent und ein wenig Erfahrung. Stiller ist ein solch Hochbegabter, dass er mangelndes historisches Wissen mit Genie wettmachen kann. Stuttgarts Trainer Sebastian Hoeneß hat das früh erkannt und Stiller zum Chefstrategen ernannt. Als Nachfolger von Wataru Endo, der von VfB-Fans mindestens so verehrt wird wie Toni Kroos von Real-Anhängern.
Noch vor wenigen Wochen hieß es, Stiller sei beim FC Barcelona im Gespräch. Was zeigt, dass Stillers Entwicklung auch international wahrgenommen wird. In den kommenden Wochen können sich die Scouts Dienstreisen nach Stuttgart sparen. Sportfreund Stiller wird regelmäßig auf den großen Bühnen zu sehen sein. Mit der Nationalmannschaft wird er durch Europa reisen und mit dem VfB in der Champions League antreten.
So viel Glanz fiel in so frühen Jahren nicht mal auf Toni Kroos.