Fast alle strafen sie mit Verachtung, unser Autor aber liebt sie: die Pubertierenden, die auf und unter dem Sprungturm ihre Show abziehen. Denn hier kann man alles erleben: Angst, Mut und Bauchklatscher.
Sie spritzen alle im Umfeld von zehn Handtüchern nass. Wenn sie aus dem Becken klettern, hängt ihnen der halbe Arsch aus der Badehose, weithin sichtbar, weil er so weiß ist. Und sie sind laut, sehr laut. Dabei haben sie nichts anderes zu sagen als "Digger". Oder "Alter". "Ey!" kennen sie auch noch. Mit anderen Worten: Siesind der schönste Grund, ins Freibad zu fahren – die Kids zwischen 12 und 16, meistens Jungs, die den Sprungturm umlagern und dort ihre Show abziehen. Wo sie sind, die Jungs mit den superschlabbrigen Badeshorts und den Stimmbruch-Trillern, da breite ich mein Handtuch aus.
Nichts gegen die olympischen Turmspringer in Paris, aber was die Pubertierenden in meinem Stamm-Freibad seit Jahren abziehen, ist eine andere Dimension. Auch wenn es beiden zunächst ums Gleiche geht – vom Absprung bis zum Eintauchen eine möglichst gute Figur zu machen –, steht bei den Kids weitaus mehr auf dem Spiel.
Und das ist genau der Grund, weshalb ich mich gern bei ihnen mit dem Rücken auf mein Handtuch lege, die Arme hinterm Kopf verschränke und hochschaue, was sich da fünf, zehn Meter über mir abspielt. Auf der Plattform, die die Welt bedeutet, sehe ich dann Ängstliche, die in letzter Sekunde einknicken und vor aller Augen den Spießrutenlauf antreten müssen: die Treppe wieder runter, vorbei an anderen, die dort schon seit einer Viertelstunde darauf warten, dass es endlich weiter geht.
Da sind die Zögernden, die es erst beim siebten Versuch schaffen, ihre Hemmschwelle zu überspringen und schüchtern mit den Füßen voran ins Nass hüpfen. Und vor allem sind da die Poser, die ihren Absprung so lange hinauszögern, bis wirklich alle im gesamten Freibad zuschauen, wie sie per Salto mit halber Schraube ins Becken eintauchen. Es ist das Leben.
STERN PAID 31_23 Freibad 10.00
Und natürlich kann man den besonderen Kitzel der Gefahr erleben, der sich die Springenden aussetzen. Aus zehn Metern Höhe ist das Wasser so hart, dass man bereits aufpassen muss, wenn man sich nur die Nase zuhält – schnell schlägt man sich mit der Hand das Gesicht blutig. Mit Schadenfreude hat das allerdings nichts zu tun: Im Freibad löst ein missratener Sprung, der als Bauchklatscher endet, mehr Anerkennung und Beifall aus als der beste Salto rückwärts. Hier zählen Wille, Mut, Verwegenheit und nicht nur die perfekte Ausführung. Im Schatten des Sprungturms kann man viel lernen.
Mich kriegt übrigens keiner auf das Ding rauf. Mir schwinden ja schon die Sinne, wenn ich nur am Beckenrand stehe und runterschaue. Höhenangst.