Wenn ein Nobelpreisträger an der Spitze eines Landes steht, endet dann die Gewalt? Bangladesch erwartet viel von der neuen Übergangsregierung. Doch manche bleiben skeptisch.
In Bangladesch ist Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus als Chef der Übergangsregierung vereidigt worden. Dies zeigten Aufnahmen im örtlichen Fernsehen. Der 84-jährige Erfinder der Mikrokredite soll so lange an der Macht bleiben, bis es Neuwahlen gibt. Wann diese stattfinden, war zunächst unklar. Er ist der Wunschkandidat der Teilnehmer an den Massenprotesten gegen die Regierung.
Bei der Rückkehr in seine Heimatland erklärte Yunus die Wiederherstellung von Recht und Ordnung zur wichtigsten Aufgabe. "Wir können keinen Schritt nach vorne machen, wenn die Situation von Recht und Ordnung nicht wiederhergestellt ist", sagte er am Flughafen in Dhaka. Der 84-Jährige sollte am Abend (Ortszeit, 16.00 Uhr MESZ) als Chef der vom Militär eingesetzten Interimsregierung vereidigt werden.STERN PAID Lieferkettengesetz Kik Bangladesh 20.18
"Heute ist ein ruhmreicher Tag für uns", sagte Yunus. Bangladesch habe einen "neuen Tag des Siegs" erlebt und eine "zweite Unabhängigkeit" erhalten. Weiter rief der Nobelpreisträger die Menschen dazu auf, Vertrauen in ihn zu haben und ihre Gewalt gegen "jeden, überall im Land" einzustellen.
Yunus, der sich im Ausland aufhielt, war am Dienstag nach wochenlangen Massenprotesten mit mindestens 455 Toten und der Flucht von Regierungschefin Scheich Hasina als Chef einer Übergangsregierung nominiert worden. Die langjährige Regierungschefin war am Montag nach den Massenprotesten und tödlichen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften zurückgetreten und mit einem Militärhubschrauber zunächst nach Indien geflohen.
Bei den Protesten seit Juli starben örtlichen Medien zufolge mehr als 400 Menschen. Die Studentenproteste hatten sich zunächst gegen eine Quotenregelung für die Vergabe von Jobs im öffentlichen Dienst gerichtet, waren dann aber in Forderungen nach einem Rücktritt der Regierungschefin gemündet. Allein am vergangenen Montag waren bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften 122 Menschen getötet worden.Mindestens 300 Tote bei Anti-Regierungsprotesten in Bangladesch 8:24
Nach der Flucht Hasinas wurde die Entscheidung für Yunus bei einem Treffen des Präsidenten Mohammed Shahabuddin mit Vertretern der Protestbewegung und des Militärs getroffen. Die Streitkräfte hatten Beobachtern zufolge zuletzt de facto die Macht in dem südasiatischen Land inne.
Auf dem Wirtschaftsfachmann – ein entschiedener Kritiker der früheren Ministerpräsidentin Hasina – liegen die Hoffnungen, das Land mit seinen mehr als 170 Millionen Einwohnern aus der Krise führen zu können. Der Wirtschaftswissenschaftler hatte in den 1980er Jahren mit der Vergabe von Mikrokrediten Millionen von Menschen in dem südasiatischen Land aus der Armut geholfen. 2006 wurde ihm dafür der Friedensnobelpreis verliehen.
Armeechef Waker-Uz-Zaman sagte in einer Fernsehansprache, er sei sicher, dass Yunus in der Lage sei, "uns durch einen schönen demokratischen Prozess zu führen". Er hoffe, dass nun eine nationale Regierung mit der Zustimmung aller gebildet werde, sagte Moynul Islam Pintu, der eine Kundgebung der ehemaligen Oppositionspartei BNP besuchte. "Ich erwarte, dass das Land auf freundliche Art und Weise regiert wird und dass die Polizei reformiert wird, damit sie die Menschen nicht schikanieren kann."
Die Übergangsregierung habe eine Möglichkeit, Bangladesch wieder in Richtung echte Demokratie zu führen, sagt der Experte Thomas Kean von der regierungsunabhängigen Crisis Group. Er erwarte, dass Yunus politische und wirtschaftliche Reformen umsetzen möchte. Dies könnte allerdings schwierig werden, wenn die Bangladesh Nationalist Party – die zweite große Partei neben der Awami-Liga Hasinas – auf schnelle Neuwahlen dringe.Bangladesch Hebammen Heftstück20.40
Die 76-jährige Hasina hatte 15 Jahre die Macht in Bangladesch inne. Ihrer Regierung wurden Menschenrechtsverletzungen bis hin zur unrechtmäßigen Inhaftierung und Tötung Oppositioneller vorgeworfen. Auch gegen Yunus wurden während ihrer Amtszeit mehr als hundert Strafverfahren angestrengt. Nur einmal kam es jedoch zur Verurteilung, die laut seinem Anwalt allerdings unmittelbar vor Yunus' Rückkehr nach Bangladesch aufgehoben wurde.
Nach dem Rücktritt der Regierungschefin Berichten zufolge weiter vereinzelt zu Gewalt. Es habe Tote gegeben, die meisten seien Anhänger von Hasinas Awami-Liga, gewesen, hieß es. Auch wurden etliche Polizeistationen niedergebrannt. Gleichzeitig übernahmen Studenten einige Aufgaben der Polizei. An mehreren Kreuzungen in der Hauptstadt regelten sie etwa den Verkehr. Andere säuberten Wände von Graffitis, die gegen die frühere Regierung gerichtet waren.
Wie der indische Grenzschutz mitteilte, versuchten nach der Flucht Hasinas zahlreiche Hindus, die als Unterstützer der ehemaligen Regierungschefin gelten, in das Nachbarland zu gelangen. Mehrere hundert Menschen hätten sich an verschiedenen Punkten an der Grenze versammelt, hieß es. Im Zuge der Proteste waren mehrere Geschäfte und Wohnhäuser der hinduistischen Minderheit in Bangladesch angegriffen worden.
Bei seiner Ankunft in Dhaka versuchte Yunus, auch in diesem Konflikt zu beschwichtigen: "Jeder Mensch ist unser Bruder", der beschützt werden müsse, sagte er. Er nannte Bangladesch "eine große Familie".