Befreiend kann vieles sein. Die Rückreise von den Schwiegereltern an Weihnachten, eine Entlassung aus einer Regierungskoalition oder ein profaner Sieg in der Bundesliga. Während Ersteres nur einmal pro Jahr passiert und Zweiteres in einer 5%-Hürde im Februar enden wird, mussten selbst historisch leiderprobte Borussen ganze (ChatGPT-berechnete) 1.003 Tage warten, um einen zweiten Bundesliga-Sieg hintereinander zu bejubeln. Im März 2022, also zu einer Zeit, in der sich selbst Christian Lindner und Robert Habeck noch liebhatten, durfte Borussia zuletzt zwei Bundesliga-Siege in Folge feiern, wobei der zweite damals beim VfL Bochum sogar nur per DFB-Beschluss als solcher gewertet wurde, nachdem Trinkgefäße mit Gerstensaft zweckentfremdet worden waren.
In diesen Zeiten, nein, auch ganz allgemein verbietet sich Kriegsmetaphorik, insofern sei der Begriff „Abwehrschlacht“ direkt zu Beginn einkassiert. Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Symbolik, dass dieser so sehr ersehnte zweite Erfolg in Serie ausgerechnet dort vollbracht wurde, wo an gleicher Stelle in der Vorsaison eine sehr bittere 3:4-Niederlage zu verschmerzen war. Robin Hack erzielte am 30. Spieltag der Vorsaison alle drei Treffer für Borussia, den letzten sogar in der 90. Minute, ehe Anton Stach in der Nachspielzeit eine gleichsam bittere, aber auch für die letzte Saison so typische Niederlage besiegelte.
Eine Niederlage oder mindestens Remis lagen auch am Samstag in der Luft, aber es sind eben diese kleinen Details, die in dieser Saison den Unterschied ausmachen. Einen Unterschied, der Borussia bereits nach diesen 15 Spieltagen so viele Siege beschert wie in der gesamten Vorsaison. Klare Heimsiege gegen vermeintlich schwächere Gegner (Kiel, St. Pauli, Heidenheim), Punktgewinne gegen vermeintlich stärkere Gegner (Leipzig, Dortmund) und ja, jetzt haben wir auch einen Haken an der Box „glücklicher Auswärtssieg“: macht unterm Strich (und unterm Weihnachtsbaum) stolze 24 Punkte, lediglich drei Zähler von den Champions-League-Rängen entfernt, und, noch viel wichtiger, ganze 14 Punkte vom Relegationsplatz.
Das Spiel selbst ist schnell erzählt: Borussia begann forsch und konzentriert, hatte in der ersten halben Stunde einige gute Konter und belohnte sich mit dem 1:0 durch Philipp Sander, der etwas überraschend den Vorzug vor Rocco Reitz erhalten hatte. Danach und bis zum Schlusspfiff waren die Gastgeber aus Sinsheim feldüberlegen, scheiterten jedoch gleich mehrfach und mitunter grotesk an ihrer Chancenverwertung oder an die sich aufopferungsvoll in jeden Zweikampf werfenden Ko Itakura und Nico Elvedi. Und zu guter Letzt erwischte Moritz Nicolas seinen wohl besten Auftritt im Dress der Borussia und entschärfte diverse Schüsse aufs Tor mit starken Reflexen.
In der zweiten Halbzeit reichte dann ein einziger genialer Moment von Robin Hack, der Alassane Plea auf die Reise schickte. Der Franzose, in guten Momenten immer noch ein genialer Kicker, hatten dankenswerterweise einen solchen Moment, wackelte und dribbelte zwei Gegenspieler aus und erzielte den Siegtreffer. Dazu in einer nahezu perfekten Phase, denn Hoffenheim hatte kurz vorher durch eine (leider) einmal mehr unglückliche Abwehraktion von Joe Scally per Elfmeter zum 1:1 getroffen, und nicht wenige sahen das Spiel in dieser Phase vollends kippen. Es zeigt, wie eng die Bundesliga inzwischen geworden ist, nimmt man die beiden Aufsteiger aus Kiel und St. Pauli sowie den FC Bayern und die wiedererstarkten Leverkusener aus der Rechnung. Hätte Plea die gleiche effiziente Kaltschnäuzigkeit beim Auswärtsspiel in Freiburg an den Tag gelegt … aber gut, lassen wir das. Das überstrapazierte Momentum ist derzeit tatsächlich bei der Elf vom Niederrhein, ebenso wie das Spielglück, das der Mannschaft gerade noch Beginn der Saison (Saisonauftakt gegen Leverkusen!) noch fehlte.
Mit Schlusspfiff entwickelte sich in unserer werten SEITENWAHL-Redaktion jedoch sogleich eine interessante Debatte, die zwei Lager zum Vorschein brachte. Während einige mahnend auf die mittelmäßige Leistung trotz des Erfolges hinwiesen und sich auch von den 24 Punkten nicht blenden lassen wollten, warf uns unser eigener Top-Transfer des Sommers, Kevin Schulte, einen „abenteuerlichen Defätismus“ vor und bekundete trocken, Fußball sei nunmal ein „Ergebnissport“. Vor nicht wenigen Wochen, nach dem bisherigen Saison-Tiefpunkt und der Niederlage in Augsburg, erschien auf dieser Seite ein Artikel, der bis heute zu den meistgeklickten der SEITENWAHL-Geschichte zählt und in dem wir mahnend auf strukturelle und systemische Schwächen im Verein Borussia Mönchengladbach hingewiesen hatten, die unserem Dafürhalten nach direkt in Liga 2 führten. Kurioser- und glücklicherweise kippte die Saison danach in eine andere, sehr viel positivere Richtung.
Richtig ist, dass Borussia im Vergleich zur Vorsaison nur ihre Pflichtaufgaben (Kiel, Bochum, St. Pauli & Co.) erfüllt hat und auch und vor allem von größerem Verletzungspech der Leistungsträger verschont blieb. Festzuhalten ist aber auch, dass drei Punkte gegen Kiel nicht weniger wert sind als drei gegen Bayern oder Leverkusen. Spiele müssen erstmal gewonnen werden, so profan das auch klingt. Dass wir an dieser Stelle jedoch über die viertbeste Abwehr der Liga (!) sprechen dürfen, ist das wahre Wunder und zeigt, dass Gerardo Seoane offenbar die richtigen Hebel gefunden hat.
Wir haben an dieser Stelle immer wieder darauf hingewiesen, dass eine erfolgreiche Defensive der Schlüssel zum Erfolg ist, denn genug Tore erzielt hatte die Mannschaft bereits vergangene Saison, es waren zum gleichen Zeitpunkt sogar fünf mehr als heute, und das ohne einen Tim Kleindienst auf dem Spielfeld. Kassiert hatte Borussia im Dezember 2023 jedoch bereits 33 Treffer, ganze 13 mehr als heute.
SEITENWAHL wird die kurze Winterpause nutzen, um weihnachtlich-melancholisch auf 2024 und die Hinrunde zurückzublicken. An dieser Stelle freuen wir uns erstmal über den Gedanken auf mögliche Auswärtsfahrten nach Europa und bereiten uns auf banalere Auswärtsfahrten zu den Schwiegerelten vor.
Frohe Weihnachten!