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Roland Virkus und der Traum von der Champions League

Beim Blick auf das Ergebnis gegen Werder Bremen, auf die Tabellensituation und auf die Torjägerliste gibt es allen Grund, ein vorsichtig positives Zwischenfazit nach neun Spieltagen in dieser Bundesliga-Saison zu ziehen. Borussia Mönchengladbach weist nach dem starken 4:1-Heimsieg gegen Werder Bremen erstmals seit mehr als eineinhalb Jahren wieder eine ausgeglichene Bilanz auf. Von den ersten neun Partien hat Borussia vier Spiele gewonnen, ebenso häufig verloren und in Mainz unentschieden gespielt. Dieses "Kunststück" hat die "Elf vom Niederrhein" im Februar 2023 letztmals aufgeführt, als das damals noch von Daniel Farke trainierte Team den FC Bayern zum bisher letzten Mal bezwang und nach 21 Spieltagen bei 8 Siegen, 8 Niederlagen und 5 Remis stand. Grund genug, um zufrieden sein? Mit der Mannschaftsleistung an diesem Sonntag definitiv, mit 13 Punkten aus neun Spielen auch, mit Torjäger Tim Kleindienst sowieso.

Borussia verdiente sich den 4:1-Erfolg gegen die zuvor auswärts unbesiegten Bremer dank aggressivem Pressing- und Umschaltverhalten im ersten Durchgang, einer über weite Strecken hochkonzentrierten Defensivleistung und dank eines Top-Torjägers in der Form seines Lebens. Tim Kleindienst provozierte den ersten Bremer Lapsus in der 11. Minute, steckte durch auf Alassane Plea, der mit etwas Glück den Ball zum 1:0 ins Tor murmelte, als wäre er Gladbachs Thomas Müller. Tim Kleindienst war es auch, der nur eine Minute später (nach erneutem Bremer Lapsus im Aufbau) dafür sorgte, dass Marco Friedl eine perfekt getimte Flanke von Franck Honorat nur noch ins eigene Tor bugsieren konnte. Tim Kleindienst leitete kurz vor der Halbzeitpause zudem auch noch das dritte Gladbacher Tor am Sonntagabend ein. Nach einem perfekten Kopfball-Zusammenspiel mit Plea schickte Kleindienst den Ball perfekt in den Lauf von Honorat, der vor Werder-Schlussmann Michael Zetterer souverän blieb. Im zweiten Durchgang machte Kleindienst den Vorlagen-Hattrick perfekt, spielte von Rechtsaußen perfekt in die Mitte, wo der eingewechselte Kevin Stöger nur noch zu seinem Premieren-Tor im Gladbach-Dress einschieben brauchte.

Das Selbstvertrauen von Tim Kleindienst ist derzeit groß wie sein nicht gerade Parkraum-sparendes Auto. Sechs Tore und vier Vorlagen in neun Spielen, die erneute Nationalelf-Nominierung damit abgesichert. Zum Vergleich: In 11 Pflichtspielen für Borussia traf der gebürtige Brandenburger bereits so häufig wie Kult-Brasilianer Kahê. Der einstige Transfer-Flop brauchte für sechs Tore allerdings 45 Einsätze mehr als Kleindienst.

Viel wichtiger jedoch ist, dass Kleindienst der Borussia Tore garantiert und die Mannschaft allein durch ihn gut genug sein sollte, um anders als in der vergangenen Saison nicht in Abstiegsgefahr zu geraten. Gleichwohl hängt die Gladbacher Sorgenfreiheit höchstwahrscheinlich an der Gesundheit des derzeit besten deutschen Stoßstürmers. Sollte Kleindienst eines Tages längerfristig verletzt fehlen, könnte Abstiegskampf schnell eher zur Realität werden als die obere Tabellenhälfte. Bleibt Kleindienst dagegen verletzungsfrei, braucht es gar nicht so viel, um im Laufe der Saison ins Träumen zu geraten. Vielleicht von der Conference League. Vielleicht von zwei Siegen in Folge. 

Sicher ist jedoch schon jetzt, wovon kein Borusse in naher Zukunft träumen wird. Es handelt sich um die Champions League. Sportgeschäftsführer Roland Virkus kann aufatmen. Am Sonntagabend hatte der 57-Jährige schließlich ein Umdenken im Gladbacher Umfeld angemahnt. Derzeit werde von der Champions League geträumt, monierte Virkus.

In der Tat ist es völlig unangebracht, in der jetzigen Situation von der Königsklasse zu träumen. Komisch ist nur, dass niemand, wirklich absolut niemand, im Gladbacher Umfeld derzeit von der Champions League träumt. Es sei denn, die Playstation ist noch an oder man schwelgt in Erinnerungen an das legendäre Auswärtsspiel bei Celtic Glasgow. Virkus betonte, der aktuelle Kader habe nicht mehr mit der Champions-League-Mannschaft "von vor sieben Jahren" zu tun. Nur noch Alassane Plea sei übrig. "Alle anderen gibt es nicht mehr."

An diesen Aussagen ist einiges schief, sodass es einer Begradigung bedarf:

  • Niemand, kein ernstzunehmender Fan, keine Medien, kein Sponsor erwähnt derzeit die Champions League und Borussia Mönchengladbach in einem Atemzug. Diese Erwartungshaltung existiert nirgendwo im Gladbacher Umfeld.
  • Zuletzt spielte Borussia Mönchengladbach im März 2021 in der Champions League. Beim 0:2 vs. Manchester City in der Startaufstellung: Nico Elvedi, Stefan Lainer und Florian Neuhaus. Alassane Plea kam von der Bank, Tobias Sippel war im Kader. 
  • Vor sieben Jahren spielte der VfL gar nicht in der Champions League, sondern in den beiden Saisons davor.
  • Alassane Plea wechselte erst 2018 an den Niederrhein

Warum Roland Virkus ausgerechnet nach einem unerwartet souveränen Heimsieg diese rhetorische Nebelkürze gezündet hat, ist völlig unklar. War es Absicht? Verwirrung stiften, um den Fokus auf die eigene Person lenken, damit zumindest rund um die Mannschaft Ruhe einkehrt? Schwer vorstellbar. Schließlich war es nicht der erste kommunikative Fauxpas während seiner inzwischen fast dreijährigen Amtszeit. Es ist demnach davon ausgehen, dass Roland Virkus die Lage so geschildert hat, wie er sie derzeit tatsächlich wahrnimmt. Vielleicht getriggert durch die DAZN-Nachfragen rund um das Spiel. In diversen Interviews wurde beim Streamingsender die Frage aufgeworfen und auch an Virkus gerichtet, ob die Erwartungshaltung in Mönchengladbach zu hoch sei. Virkus beantwortete dies sachlich-nüchtern, ließ sich auf keinen detailliert inhaltlichen Schlagabtausch ein. In der Mixed-Zone kam es unmittelbar danach zur kuriosen Champions-League-Aussage, nicht mehr sachlich-nüchtern, sondern "deutlich in Rage", wie die Kollegen von Torfabrik schreiben.

Aus Fan-Sicht wäre das Monieren einer angeblich zu hohen Erwartungshaltung auch ohne den Königsklassen-Vorwurf bereits hanebüchen. Wie sollen Anhänger von Borussia Mönchengladbach überzogene Erwartungen haben, wenn die größte Sehnsucht vermutlich schon gestillt wird, sollte es Borussia Mönchengladbach in diesem Jahrzehnt noch einmal schaffen, zwei Spiele in Folge zu gewinnen. Dass der mächtigste Mann im Klub, Roland Virkus, dem Umfeld vorwirft, eine unrealistische Erwartungshaltung an den Tag zu legen, ist ein harter Vorwurf. Ein Vorwurf, der auch oder gerade diejenigen am härtesten treffen dürfte, die seit inzwischen drei Jahren einen immer neuen Umbruch auf dem ziellos wirkenden "Borussia-Weg" mitbestreiten. Diejenigen, die den immer neuen Spielern und Trainern zu Beginn einer Saison jedes Mal aufs Neue einen gewissen Kredit mit auf diesen Weg geben.

Es ist daher völlig unverständlich, dass Virkus ein derart scharfes rhetorisches Schwert gezogen hat. Die Vermutung liegt nahe, dass ein aufgebrachter und von der allgemein schlechten Stimmungslage genervter Sportgeschäftsführer - mal wieder – auf plumpe Art und Weise von den vielen Fehlentwicklungen im Verein ablenken wollte. Schon seit seiner denkwürdigen (weil völlig überraschenden) Mega-Beförderung zum Sportchef schlingert Virkus rhetorisch umher. Sobald Interviews nicht in einen Autorisierungs-Zirkel gelenkt werden oder er sich für die Vereins-Homepage gewissermaßen selber interviewen darf, ist kein Mikrofon vor kuriosen Aussagen sicher.

Nicht minder aufmerksamkeitserregend war eine weitere Aussage. Virkus habe sein Amt "in einer sportlich wie finanziell absolut beschissenen Situation" angetreten und der Klub müsse sich weiter "konsolidieren". Zweifellos wurde Borussia Mönchengladbach härter von der Corona-Pandemie und ihren Folgen getroffen als manch ein anderer Verein. Dass es aber nicht möglich war, im Sommer einen Abwehrspieler zu verpflichten oder auch nur auszuleihen und dies auch in der kommenden Winter-Transferperiode nicht realistisch ist, wie Virkus nachschob, gibt zu bedenken.

Erst recht, wenn man sich vor Augen führt, dass Borussia auf dem Transfermarkt auch zu Virkus-Zeiten nicht bloß sparen musste wie eine Kirchenmaus. Ja, manche Neuzugänge wurden durch Verhandlungsgeschick bei Abgängen refinanzier. Der Kosten-Nutzen-Faktor muss jedoch vor allem beim teuersten sowie beim drittteuersten Zugang der Virkus-Ära in diskutiert werden: Tomas Cvancara für 10,5 Millionen Euro zu holen, um ihn nach einer ausbaufähigen Debüt-Saison durch den herausragenden Tim Kleindienst (für 7 Mio. Euro) ersetzen zu „müssen“, wirft Fragen auf. Zweifellos besitzt die "Tschechenlatte" gewisse Anlagen und hat in einigen Spielen bereits wichtige Treffer erzielt (u.a. Siegtor vs. Union). Aber wie passt es zusammen, dass ein zweistelliger Millionenbetrag für einen Hochrisikotransfer eines Spielers aus einer kleinen europäischen Liga ausgegeben wird, wenn es dem Verein „finanziell beschissen“ geht?

Ähnliche Fragen müssen sich Virkus und sein Scouting-Chef Steffen Korrell auch in Bezug auf Nathan Ngoumou gefallen lassen. 8 Millionen Euro überwies Borussia vor der Saison 2022/23 an den FC Toulouse. Dass sich das Investment irgendwann refinanziert, darf inzwischen bezweifelt werden. Es ist gewiss nicht die Masse an Zugängen, die gegen die Kaderpolitik von Virkus spricht. Problematisch ist jedoch, dass ausgerechnet zwei der drei teuersten Transfers bislang ein Flop sind.

Es ist längst überfällig, dass sich die Vereinsspitze um Roland Virkus angemessen und konstruktiv mit berechtigter Kritik auseinandersetzt. Der Vorwurf des Sportchefs, die Erwartungshaltung sei überzogen und das Mönchengladbacher Umfeld träume von der Champions League, spricht nicht dafür, dass dies bislang geschieht.

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