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Skandal im deutschen Turnen: "Wurde benutzt, bis ich kaputt war"

Der deutsche Turnsport wird von einem schweren Skandal erschüttert. Fast täglich erheben Ex-Athletinnen neue Vorwürfe gegen Verantwortliche. Es geht um mentalen Missbrauch und sogar Todesdrohungen. Die Schilderungen erinnern an Zustände in Ostblockländern in den 1980er-Jahren. Was zahlreiche ehemalige Turnerinnen über die angeblich gängige Praxis am Bundesstützpunkt in Stuttgart in den vergangenen Tagen öffentlich gemacht haben, ist schwer zu ertragen. "In Stuttgart wurde ich behandelt wie ein Gegenstand. Ich wurde benutzt, und das so lange, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor", schreibt beispielsweise die heute 20-jährige Lara Hinsberger bei Instagram. Turnerinnen prangern katastrophale Umstände an Ihr Post am Silvestertag war die letzte von zahlreichen Schilderungen aus der Turnszene. Seit ihrer Zeit in Stuttgart sei sie in psychotherapeutischer Behandlung, schreibt Hinsberger – und scheint damit nicht allein zu sein. Medial größer aufgekommen war das Thema zur Jahreswende durch einen Post ihrer ehemaligen Kollegin Tabea Alt . Darin hatte die 24-Jährige von "systematischem körperlichem und mentalem Missbrauch" berichtet. Sie sei trotz Frakturen gezwungen worden, zu starten und schreibt von Straftrainings und unverhohlenen Drohungen der Trainer, die an der Tagesordnung gewesen sein sollen. Tabea Alt: Ex-Turnerin mit schweren Vorwürfen gegen Verbände Die "Bild"-Zeitung berichtete sogar davon, dass ein für zwölf- bis 16-jährige Jugendliche verantwortlicher Trainer seinen Schützlingen mit dem Tod gedroht habe. Falls Übungsteile unsauber geturnt werden sollten, habe er diesen mit "I kill you" (Deutsch: "Ich töte dich.") gedroht. Es sind Schilderungen wie diese, die Eltern den Schrecken in die Glieder treiben. So auch im Fall Lara Hinsbergers. Sie schreibt: "Ich trainierte immer weiter, bis ich irgendwann eine Stressfraktur im Schienbein mit zusätzlichem Meniskusriss im linken Bein erlitt. Als meine Mutter mit dem (sich in Stuttgart befindenden) Arzt telefonierte, wurde ihr gesagt, dass ich nicht trainieren dürfe. Dabei wurde sich über den ärztlichen Rat hinweggesetzt. Ich trainierte knapp fünf Stunden täglich nur noch Barren." Ähnlich erging es auch Alt. Die mittlerweile 24-Jährige war über Jahre eine der besten Turnerinnen Deutschlands. 2017 holte sie bei der Weltmeisterschaft in Montreal die Bronzemedaille am Schwebebalken und gewann den Weltcup im Mehrkampf. Mehr noch: An ihrem Paradegerät führte Alt sogar zwei neue Elemente ein, die im Turnen seitdem ihren Namen tragen. Der gebürtigen Ludwigsburgerin wurde eine glänzende Zukunft vorausgesagt. Entsprechend überraschend kam für die Öffentlichkeit 2021 Alts Entschluss, die Karriere im Alter von 21 Jahren zu beenden. Zuvor war sie immer wieder von Verletzungen geplagt worden – an Fuß, Rücken und Schulter. Wie nun publik wurde, waren Überlastung im Training und nicht auskurierte Blessuren dafür mitverantwortlich. Ähnlich erging es Michelle Timm. Nach jahrelangen Problemen mit Ermüdungsbrüchen in Schien- und Wadenbein musste sie dem Leistungssport ebenfalls früh den Rücken kehren. Auch die 27-Jährige, die mittlerweile als Trainerin arbeitet, verriet in einem Post vor vier Tagen, dass sie "monatelang aufgrund von ärztlichen Fehlentscheidungen mit sichtbaren körperlichen Schäden trainiert" habe. Doch warum haben die jungen Athletinnen das überhaupt mit sich machen lassen? Warum haben sie sich nicht gewehrt? Die frühere Olympia-Starterin Kim Bui hat darauf eine eindeutige Antwort: Sie hebt im Gespräch mit dem "Stern" hervor, dass es für aktive Turnerinnen schwierig sei, den psychischen Missbrauch zu erkennen. "Man ist noch so jung, man sieht die Ergebnisse, die Trainingsmethoden scheinen den Trainern recht zu geben, also hinterfragt man nicht. Man verinnerlicht, dass man als Sportlerin den Mund zu halten und zu funktionieren hat", erklärte die 35-Jährige, die heute Mitglied der Athletenkommission im Internationalen Olympischen Komitee ist. Bui, die ebenfalls in Stuttgart turnte, hat 2023 das Buch "45 Sekunden. Meine Leidenschaft fürs Turnen – und warum es nicht alles im Leben ist: Ein Plädoyer für menschlicheren Leistungssport" veröffentlicht. Darin greift sie eine Problematik auf, die im Turnsport allgegenwärtig ist: Essstörungen. "Ich war erst 15, als ich zum ersten Mal das Essen wieder hervorwürgte. Es musste raus, ich durfte einfach nicht zunehmen. Von da an erbrach ich mich mehrmals, jeden Tag", gab sie im Zuge dessen zu und stellte klar: "Ich hatte jahrelang Bulimie." 37 Kilogramm bei 1,60 Metern Körpergröße Und damit war sie im Kreis der jungen Turnerinnen wahrlich nicht allein. Gewichtszunahme gilt vielen Trainern noch immer als Problem. Carina Kröll schreibt beispielsweise in einem Post, dass sie mit 17 Jahren massiv unter Druck gesetzt worden sei, um innerhalb von einigen Wochen fünf bis sechs Kilogramm zu verlieren. Besonders schockierend: "Ich war 1,64 Meter groß und wog 54 Kilogramm – ein komplett gesundes Gewicht. Trotzdem wurde ich als zu schwer eingestuft", so Kröll. Noch krasser war es bei Lara Hinsberger, die an Silvester ihr Schweigen brach. Bei der deutschen Meisterschaft 2019 habe sie bei 1,60 Metern Körpergröße nur noch 37 Kilogramm gewogen. "Geredet hatte darüber im deutschen Turnen wirklich jeder, eingeschritten, um mich zu schützen, ist aber leider niemand", schrieb Hinsberger. Kurz darauf seien bei der damals 14-Jährigen unter anderem Depressionen diagnostiziert worden. Im selben Alter war für Catalina Santos Moran Diaz bereits Schluss mit dem Leistungssport. "Mit 14 hörte ich auf zu turnen, weil der mentale Druck unaushaltbar wurde und mein Körper bereits so beschädigt war, dass ich nicht mehr turnen konnte. Die Überbelastung vom Training und der Erfolgsdruck waren riesig. Während meines Bandscheibenvorfalls nahm ich viele Medikamente ein, um irgendwie weiter kämpfen zu können, bis es irgendwann nicht mehr ging", schrieb sie bei Instagram. Buis schwerer Vorwurf Obwohl die zuletzt öffentlich gewordenen Fälle sich größtenteils auf das Kunstturnforum (KTF) in Stuttgart fokussieren, sieht IOC-Mitglied Bui ein strukturelles Problem. Sie spricht im "Stern" von einem System, das Sportlerinnen über Jahre "manipuliert, erniedrigt und kaputt gemacht" habe und fügt an: "Es betrifft den gesamten Turnsport in Deutschland." Zudem erhebt Bui den Vorwurf, dass sich viele Verantwortliche gegenseitig geschützt hätten. Den Eindruck bestärkt der Post von Tabea Alt. Sie schrieb, dass sie den Deutschen Turner-Bund (DTB) bereits vor einigen Jahren auf die Zustände in Stuttgart aufmerksam gemacht habe. Passiert sei aber nichts. Das dürfte sich nun ändern. Der DTB hatte nach Alts Statement Aufklärung durch eine Untersuchung angekündigt. Zudem seien Sofortmaßnahmen initiiert worden. Dem Bundesverband und dem Schwäbischen Turner-Bund (STB) lägen "konkrete Informationen zu möglichem Fehlverhalten vonseiten verantwortlicher Trainer am Bundesstützpunkt in Stuttgart vor", hatte der Verband mitgeteilt. Zwei Übungsleiter sind vorläufig bis zum 19. Januar freigestellt worden, wie "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" berichteten. Außerdem kündigte der STB eine selbstkritische Überprüfung der bisherigen Maßnahmen an. Eine davon beinhaltet den Bundestrainer. Denn Gerben Wiersma wird nach den öffentlichen Vorwürfen in Stuttgart Trainingseinsätze übernehmen, wie der STB dem SWR bestätigte. Ab dem 7. Januar seien Wiersma und Nachwuchsbundestrainerin Claudia Schunk dort am Stützpunkt im Einsatz. Folgen konkrete personelle Konsequenzen? Ob es zu konkreten personellen Konsequenzen kommen wird, konnte der Schwäbische Turner-Bund nicht beantworten. Der Verband verwies in diesem Zusammenhang auf das Persönlichkeitsrecht. Allerdings wurden zwei Übungsleiter laut "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" vorläufig freigestellt. Wenn es nach Bui geht, darf es dabei nicht bleiben. "Die Zustände am Bundesstützpunkt Stuttgart müssen arbeitsrechtliche Konsequenzen haben. Da wurden – wie es aussieht – junge Menschen kaputt gemacht, das darf nicht ohne personelle Folgen bleiben", sagte die gebürtige Tübingerin.

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