Wie diese Geschichte begann: Im Februar 2023 berichtete die MDZ von vier russlanddeutschen Familien, die beim Bundesverwaltungsamt (BVA) ihre Aufnahme als Spätaussiedler beantragt hatten und deren Anträge abgelehnt worden waren. Der Grund: Alle vier Antragsteller legten dem BVA Dokumente vor, in denen in der Spalte zur Nationalität „Russisch“ steht. Für das BVA handelt es sich dabei um ein ausdrückliches Bekenntnis zu einem anderen als dem deutschen Volkstum („Gegenbekenntnis“). Ändern diese Antragsteller ihren Nationalitäteneintrag in späteren Dokumenten etwa per Gericht von Russisch auf Deutsch, dann betrachtet das BVA dies als „Lippenbekenntnis“. Menschen wechseln demnach ihre Nationalität, um den Status eines Spätaussiedlers zu erhalten.
Die Zahl der Ablehnungen auf Grund von „Gegen- und Lippenbekenntnissen“ im Jahr 2022 schnellte in die Höhe. Die Geschichte erfuhr viel Resonanz. Deutsche Politiker versprachen, zur alten Praxis zurückzukehren. Mehr als ein halbes Jahr lang arbeitete die Regierung an der Novellierung. Im November 2023 wurden die Änderungen angenommen und traten am 23. Dezember in Kraft.
„Wir waren voller Hoffnung“, sagt Igor Sucharew aus Moskau, der erste Protagonist des MDZ-Artikels. „Aber 2024 war das Jahr der enttäuschten Hoffnungen.“ Noch vor der Änderung schlug er dem BVA vor, den Rechtsstreit durch eine gütliche Einigung zu beenden. Doch im Februar dieses Jahres erhielt er eine Absage. Im Oktober wurde der Termin für die für den 18. Dezember anberaumte Gerichtsverhandlung in seinem Fall bekannt. Igor wartet seit 2,5 Jahren auf diese Anhörung, wollte daran persönlich teilnehmen. Aber jetzt, in so kurzer Zeit, ist es ihm nicht gelungen, ein Visum zu beantragen, trotz verschiedener Anträge.
„Am 28. August, dem schrecklichen Jahrestag des Deportationserlasses für Sowjetdeutsche, hat das Verwaltungsgericht Köln ein Grundsatzurteil gefällt, in dem der Kläger mit dem Argument des Lippenbekenntnisses abgewiesen wurde“, macht Igor Sucharew aufmerksam. „Dabei bezieht sich das Gericht auf genau die gleichen Worte im besonderen Teil des Gesetzentwurfs, die ich und andere Betroffene vor einem Jahr kritisiert haben. Ähnliche Urteile gegen die Antragsteller werden nun auf der Grundlage dieses Modells gefällt, wie ein Nachahmer.“
„Die Änderungen haben sich äußerst negativ auf mein Leben und das Leben meiner Familie ausgewirkt“, sagt Davyd Kail, ein kinderreicher Vater aus Tscheljabinsk im Ural. „Die Gerichtsverhandlung fand im Frühjahr 2024 statt, also nachdem die Änderung des BVFG in Kraft getreten war. Trotzdem entschied das Gericht, die Novellierung des BVFG zu ignorieren, und beschuldigte mich des Lippenbekenntnisses, weil ich die Spalte „Nationalität“ in einem meiner Dokumente geändert hatte. Mein Anwalt empfahl mir, Berufung beim Oberverwaltungsgericht in Münster einzulegen, was ich auch getan und ein neues Honorar für den Anwalt gezahlt habe. Jetzt muss ich auf eine Entscheidung warten, ob das Gericht den Widerspruch zulässt oder nicht. Die Antwort dürfte in der ersten Hälfte des Jahres 2025 erfolgen. Wie mein Anwalt sagte: Hätte das Gericht die Änderung des BVFG angewandt, hätte ich den Fall gewonnen.“
Davyd Kail analysierte die von Januar bis Oktober veröffentlichten Gerichtsentscheidungen in Köln in ähnlichen Fällen. In 25 von 26 Fällen fiel das Urteil gegen den Kläger aus. Der Mann schrieb die Politiker direkt an. Einer von ihnen, Christoph de Vries (CDU), antwortete so: „Uns erreichen trotz der Novellierung des BVFG etliche Ablehnungen durch die Verwaltungsgerichte aufgrund eines vorliegenden Gegenbekenntnisses oder eines unterstellten „Lippenbekenntnisses“ zum deutschen Volkstum, die ja gerade durch die Gesetzesänderung ausgeschlossen werden sollten. Darauf weisen auch Sie hin. Es dürfte nach dem Willen des Gesetzgebers überhaupt nicht zu Ablehnungen durch das BVA kommen, weil im Gesetz ausdrücklich geregelt ist, dass der letzte Nationalitäteneintrag maßgeblich ist oder in den Fällen, wo eine Änderung des Nationalitäteneintrags nicht möglich ist, auch ernsthafte Bemühungen zur Änderung des Nationalitäteneintrags genügen können.“
Die dritte Heldin, Jelena Kisner (geb. Konradi) aus Chanty-Mansijsk, gab auf, nachdem das BVA ihren Antrag abgelehnt hatte. Sie sagt, dass der Anwalt sich nicht einmal mit ihrem Fall befassen wollte. „Also haben meine Familie und ich die Idee aufgegeben. Es gibt keinen besonderen Wunsch mehr“, schreibt sie.
Und schließlich Irina Smirnowa aus Sotschi, eine Mutter von drei Kindern. Im Januar 2023 bekam sie die Ablehnung. Sie legte Widerspruch ein. Die Prüfung dauerte ein Jahr. Während sie auf eine Antwort wartete, schickte sie dem BVA immer wieder neue Dokumente, die ihre deutsche Herkunft bestätigten, und appellierte an Politiker. Das hat sich ausgezahlt: Der lang ersehnte Aufnahmebescheid wurde erteilt. Irina äußert sich vorsichtig dazu. Bevor sie im Jahr 2025 die deutsche Staatsbürgerschaft erhält, möchte sie lieber nicht darüber sprechen, was sie das alles gekostet hat.
Olga Silantjewa
Запись Spätaussiedlerverfahren: Es ist nicht leichter geworden впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.