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Bürokratie-Irrsinn in Deutschland: Experte fordert radikales Umdenken

Bürokratie ist in Verruf geraten – nicht erst, seit Elon Musk ihr als Berater des künftigen US-Präsidenten den Kampf ansagt. Auch in Deutschland gibt es ein Gremium, das sie eindämmen soll. Dessen Vorsitzender wünscht sich mehr Einfluss. Anders als den Tech-Milliardär Elon Musk kennen die wenigsten Deutschen Lutz Goebel. Dabei ist auch er ein erfolgreicher Unternehmer und berät mit zehn weiteren Ehrenamtlichen die Bundesregierung beim Abbau von Bürokratie. Das mag auch am sperrigen Namen des Gremiums liegen, dem er seit zweieinhalb Jahren vorsitzt: Normenkontrollrat (NKR). Ganz sicher aber liegt es daran, dass Goebel und seine Mitstreiter beim NKR eher hinter den Kulissen der Macht arbeiten. Dabei haben sie viele Ideen, wie sich die überbordende Bürokratie abbauen lässt. Welche das sind und warum trotz ihrer Arbeit die Bürokratie in der Verwaltung weiter angewachsen ist, erklärt Goebel im Interview mit t-online. t-online: Herr Goebel, Sie sind ein Mann der Wirtschaft und zuständig für den Bürokratie-Abbau in Deutschland. Sind Sie der deutsche Elon Musk ? Lutz Goebel: Haha, interessanter Vergleich, aber der bin ich natürlich nicht. Wären Sie es gern? Nein. Ich arbeite in einem gesetzlich verankerten, unabhängigen Expertengremium, das die Bundesregierung berät. Wir setzen uns für weniger Bürokratie, bessere Gesetze und eine digitale Verwaltung ein. Der NKR überprüft, welche Kosten neue Gesetze verursachen, ob praxistauglichere Alternativen bestehen und wie eine gute digitale Ausführung erreicht werden kann. Aber wir arbeiten nicht mit der Kettensäge. Sie spielen auf Elon Musks Plan an, massiv Stellen in der Verwaltung zu streichen. Manche sind ja überzeugt, das wäre auch ein Weg für Deutschland. Sie nicht? Nein. Es reicht nicht aus, Personal abzubauen und Behörden zu schließen, die Aufgaben müssen dann ja an anderer Stelle erledigt werden. Elon Musk wird auch erst einmal zeigen müssen, ob er den angekündigten Bürokratieabbau in den USA tatsächlich so umsetzen kann. Was wir aber in Deutschland brauchen, ist tatsächlich ein radikales Umdenken beim Thema Bürokratie, um diesen Staat wieder in Ordnung zu bringen. Steht es so schlimm? Das Land ist in einem desolaten Zustand. Machen wir so weiter wie bisher, wird das zu einem massiven Wohlstandsverlust führen, weil die Wirtschaft nicht mehr hochkommt. Hat Christian Lindner also doch recht, wenn er sagt, Deutschland brauche mehr Elon Musk und mehr vom argentinischen Präsidenten Javier Milei? In Bezug auf das radikale Umdenken schon. Ohne einen Kulturwandel in der Gesetzgebung und eine Reformierung des Staates wird es nicht gehen. Das betrifft aber nicht nur die Politik, sondern auch jeden einzelnen Bürger. Was genau meinen Sie damit? Wir Deutschen lieben die Einzelfallgerechtigkeit. Sie möchten, dass alles zu hundert Prozent gerecht ist. Und die Politiker gehen darauf ein. Aber davon müssen wir uns verabschieden. Wir können nicht alle Eventualitäten regeln. Was heißt das konkret? Ein Beispiel: Arzneimittelverpackungen werden jetzt immer zugeklebt. Da ist vielleicht in ein Prozent der Fälle mal was aus Verpackungen rausgefallen, aber nun müssen alle umständlich verklebt werden. Was für ein unnötiger Aufwand. Das ist, was ich meine, wenn ich sage: Wir können nicht alle Eventualitäten regeln. Der Wirtschaft und den Bürgern sollte nicht länger pauschal misstraut werden. Nur weil es wenige gibt, die sich nicht an Regeln halten, können nicht alle möglichen Missbrauchsfälle geregelt werden. Das lässt sich auch gar nicht mehr kontrollieren. Für viele klingt das nach einem Absenken von Standards. Das ist ein Missverständnis. Unter den Sozialdemokraten wird Bürokratieabbau teilweise immer noch mit dem Abbau von sozialen Standards gleichgesetzt und ein Teil der Grünen denkt an den Abbau von Umweltstandards. Das muss man voneinander trennen: Welche Standards wir uns leisten können, dafür sind die Politiker zuständig. Wie man diese dann bürokratiearm umsetzt, ist eine andere Frage. Da können wir helfen, die Prozesse zu vereinfachen. Wir sind parteipolitisch unabhängig. Wie muss man sich das konkret vorstellen? Ein gutes Beispiel ist der Praxischeck, den das Bundeswirtschaftsministerium auf unseren Vorschlag hin für sich in einer Reihe von Fällen sehr erfolgreich angewandt hat. Dabei wird ein Gesetz in Workshops mit allen wichtigen Betroffenen im Detail durchgegangen und geschaut, welche Vorschriften wie wirken und wie sich diese vereinfachen lassen. Damit konnten für Unternehmen in der Photovoltaik zum Beispiel unnötige Hürden abgebaut werden. In der Wachstumsinitiative war vorgesehen, das auch auf andere Ministerien zu übertragen, vor allem auch für Gesetze, die ministeriumsübergreifend wirken. Nun kommt die aber nicht mehr. Wie enttäuscht sind Sie darüber? Ich bedauere das sehr. Die Ampel ist ja viel kritisiert worden, sie hat aber auch viel Gutes gemacht und noch vorgehabt: zum Beispiel die Reform des Vergaberechts, die allein eine Entlastung in Höhe dreistelliger Millionenbeträge gebracht hätte. Aber vor allem auch die Wachstumsinitiative, die unter anderem ein jährliches Bürokratieentlastungsgesetz vorsah. EU-Gesetze sollten zudem nicht mehr unnötig nationale Gesetze verschärfen. Auch ein Entlastungsportal war geplant, in das Bürger eingeben sollten, welche Regelungen sie besonders belasten. All das wäre eine wirkliche Trendwende gewesen. Theoretisch hätten noch einige der Maßnahmen beschlossen werden können. Hätten Sie sich da weniger parteitaktisches Handeln und mehr gesamtstaatliche Verantwortung gewünscht – auch von der FDP und der Union? Ja, insbesondere bei der Wachstumsinitiative hätte ich mir das gewünscht. Aber da war vieles im Detail noch nicht fertig und das hätte sich jetzt auf die Schnelle auch nicht klären lassen. Aber ich hoffe sehr, dass die nächste Regierung die Wachstumsinitiative fertigstellt und umsetzt. Wir brauchen sie dringend. Wie wahrscheinlich ist das? Ich bin da optimistisch. Haben Sie entsprechende Signale auch von der Union? Ja. Ich rede immer wieder mit CDU-Bundestagsabgeordneten und höre, dass sie die Probleme erkannt haben und grundlegend ändern wollen. Die anderen Parteien natürlich auch. Durch Bürokratieabbau lassen sich Milliardenbeträge einsparen. Das ist ein kostenloses Konjunkturprogramm. Und wir brauchen das Geld. Das haben mittlerweile alle verstanden. Sie haben vorhin ein sehr düsteres Bild vom Zustand des Landes gezeichnet. In Ihrem letzten Jahresbericht loben Sie aber, dass die Bürokratiebelastung für die Wirtschaft zurückgegangen ist. Bislang hat das dann aber noch keine Wirkung gezeigt. Die Ampel hat tatsächlich eine Trendwende eingeleitet. Der Bürokratieaufwuchs konnte gebremst werden, aber das Plateau, auf dem wir angekommen sind, ist einfach zu hoch. Das reicht noch lange nicht aus. Woran liegt das? Einen Grund dafür sehe ich in der 2015 eingeführten "One in one out"-Regel, die besagt, dass jede Vorgabe, die die Wirtschaft belastet, spätestens bis zum Ende der jeweiligen Legislaturperiode durch eine entlastende Vorgabe in gleicher Höhe ausgeglichen werden muss. Dadurch soll der jährliche Erfüllungsaufwand zwar dauerhaft begrenzt werden, aber von Abbau ist da keine Rede. Problem ist auch, dass die Regel erhebliche Kosten einfach ausklammert: sämtliche Einmalaufwände, die die Unternehmen jedes Jahr in Milliardenhöhe belasten, sämtliche Aufwände, die für Bürger und die Verwaltung entstehen, und sämtlicher Aufwand aus EU-Recht, der mehr als 50 Prozent der gesamten Folgekosten ausmacht. Was müsste sich in Sachen EU-Bürokratie ändern? Wenn ein neues EU-Gesetz beschlossen wird, für das es bereits ein nationales Gesetz gibt, sollte das nationale wegfallen. Bislang werden die EU-Regeln noch zu den nationalen hinzuaddiert. Das sogenannte "Gold Plating". Das EU-Lieferkettensorgfaltsgesetz hätte zum Beispiel nur ab einer bestimmten Unternehmensgröße gegolten, doch unser nationales Gesetz stellt diese Anforderungen auch an kleine Unternehmen, die damit überfordert sind. Es gilt weiter. Sprechen Sie da auch aus eigener Erfahrung als Unternehmer? Definitiv. Wir müssen zum Beispiel als Lieferanten für unsere unterschiedlichsten Kunden wegen des Lieferkettensorgfaltsgesetzes jeweils unterschiedliche Fragebögen ausfüllen, weil die nicht normiert sind. Das ist ein gigantischer Aufwand. Da brauchen Sie sehr viel Personal. Wie hätte es besser laufen können? Wenn man die Unternehmer gleich von Beginn einbezogen hätte, hätten wir viele Vorschläge zur Prozessvereinfachung liefern können. Zum Beispiel, indem Lieferanten sich zertifizieren lassen, statt dass jedes Unternehmen das für jeden Lieferanten nachweisen muss. Und damit wären wir wieder beim Praxischeck, warum der so wichtig ist. Wie hoch ist der Anteil, den Ihr Unternehmen für unnötige Bürokratie aufwenden muss? Der liegt bei etwa 50 Prozent. Das passt gut zu dem Bürokratieabbaupfad, den wir der Regierung empfehlen: 25 Prozent in 4 Jahren, also einer Legislatur. Welche Rolle spielt beim Bürokratieabbau die noch immer unzureichende Digitalisierung in deutschen Amtsstuben? Eine sehr große. Auch den Fachkräftemangel werden wir in den Verwaltungen nur durch bessere Digitalisierung in den Griff bekommen. Da stellt der Föderalismus in seiner jetzigen Form eine große Herausforderung dar. Jedes Bundesland, teilweise jede Kommune, hat andere Systeme. Wenn wir weitermachen wie bisher, dann werden wir nicht vorwärtskommen und international noch mehr den Anschluss verpassen. Was wäre notwendig? Der Bund muss klare Standards und Schnittstellen für die IT vorgeben können. Er braucht ein Vorrecht – so wie in Österreich , das ja auch föderal ist. Wie groß ist Ihr Optimismus, dass die Länder da mitmachen? Es ist keine Frage von Optimismus, es ist eine absolute Notwendigkeit. Das müssen die Länder einsehen. Sonst werden wir immer langsamer und schwerfälliger. Ich bin dafür, die Digitalisierung in einem Digitalministerium zu bündeln, wenn es mit klaren Kompetenzen, Entscheidungsbefugnissen sowie Personal und Finanzen ausgestattet ist. Heute hängt der Aufgabenbereich irgendwo im Innenministerium und wird vom Budget her immer ausgespielt von anderen, vermeintlich wichtigeren Themen. Was dem Ziel weniger Behörden und weniger Beamte, aber zuwiderliefe … Nein. Man müsste die Leute, die heute im Verkehrsministerium, im Innenministerium und anderen Ressorts für digitale Themen zuständig sind, dort abziehen und im Digitalministerium zusammenführen. Trotzdem ist die Zunahme von Beamtenstellen beim Bund ja ein Problem. In den letzten zehn Jahren gab es ein Plus von 50.000 Stellen. Wie erklärt sich das? Gute Frage. Da sind wir wieder beim Thema Einzelfallgerechtigkeit: Wenn immer mehr reguliert werden soll, wird der Staat immer größer. Das wird auf Dauer auf keinen Fall gut gehen. Wir haben ja jetzt schon nicht mehr genug Geld, um das alles noch zu finanzieren. Was müsste getan werden? Wir müssen uns dringend hinsetzen und schauen: Was sind die komplexesten Prozesse, wo sind mehrere Ministerien involviert und wie können wir das bündeln? Da muss wie in einem Unternehmen vorgegangen werden: unvoreingenommen analysieren und dann Prozesse verbessern. Das würde zwangsläufig auch zum Abbau von Stellen in Ministerien führen. Der Normenkontrollrat hat auch dafür Vorschläge gemacht. Glauben Sie wirklich, dass Ministerien dazu bereit sind? Das hängt von den Ministern ab. Es gibt durchaus auch in Ministerien Kräfte, die offen für Veränderung sind. Aber tendenziell sind die Beharrungskräfte groß. Außerdem muss man bedenken, dass 75 Prozent aller Bundesbediensteten verbeamtet sind. Die sind ohnehin geschützt. Wenn Sie sich etwas wünschen dürften, was wäre das? Etwas mehr Einflussmöglichkeit für den Nationalen Normenkontrollrat. Wir brauchen vor allem ein aufschiebendes Vetorecht für neue Gesetze: Ist der Nutzen eines Gesetzes nicht wesentlich größer als die Kosten, dann sollten wir verbindlich sagen können: Das muss überarbeitet werden. Auch bei schlecht gemachten Gesetzen sollte das gelten, sodass die Ministerien dann verbindlich nacharbeiten müssen. Herr Goebel, vielen Dank für das Gespräch.

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