An den ersten vier Spieltagen der jungen Saison scheint es so, als würde den Madrilenen oftmals die nötige Tiefe fehlen. Dadurch, dass Joselu den Verein verlassen hat und der zurzeit verletzte Jude Bellingham nach der Mbappé-Verpflichtung eine defensivere Rolle bekleidet, fehlt den Blancos zurzeit der klassische tiefe Zielspieler. Ohne Frage ist es auch möglich, mit drei beweglichen, dribbelstarken Spielern in der vordersten Ebene zu agieren. Allerdings ist das Spiel des Meisters dadurch etwas ausrechenbarer. Einen Wandspieler, der den Ball klassisch festmacht, Gegenspieler bindet und somit Räume schafft, gibt es derzeit nicht. Zudem ist es deutlich schwieriger, mit Flanken zum Erfolg zu kommen, wie es den Königlichen beispielsweise im entscheidenden Halbfinalduell gegen die Bayern zum Erfolg verholfen hat, als Joselus Präsenz in der Box den Ausschlag fürs Weiterkommen gegeben hat. Hier sollte Ancelotti zumindest im Hinterkopf haben, Bellingham situativ auf der Neunerposition einzusetzen.
Eine weitere Problematik stellt das Diktieren des Spielrhythmus‘ dar. So gibt es nach dem Karriereende von Toni Kroos derzeit keinen klaren Taktgeber im zentralen Mittelfeld. Gegen Betis Sevilla hat Ancelotti diese Aufgabe Dani Ceballos übertragen. Mit seiner Dynamik und Kommunikationsfähigkeit versuchte der Spanier, das Spiel des Rekordmeisters zu ordnen. Die frühzeitige Auswechslung impliziert jedoch, dass der „Mister“ nicht vollends zufrieden mit den strategischen Fähigkeiten des 28-Jährigen.
Mit Blick auf die kommenden Wochen muss Ancelotti diese Rolle klar definieren. Am ehesten scheint Federico Valverde in der Lage, den Rhythmus des Spiels vorzugeben. Dafür müsste er jedoch seine ursprüngliche Stärke, das Box-to-Box-Spiel, zumindest in Teilen im Sinne einer noch höheren Stabilität im Ballbesitz aufzugeben. Eine Passquote von 90 Prozent in den ersten vier Partien deutet an, dass „Fede“ diese Transformation gelingen könnte. Dasselbe gilt auch für Eduardo Camavinga, wobei dieser mit seinen dynamischen Dribblings wie kein anderer in der Lage ist, die Statik eines Spiels zu ändern, sodass Valverde hier die logische Wahl scheint. Aurélien Tchouaméni ist zwar ein solider Passspieler, verfügt aber primär im Spiel gegen den Ball seine großen Stärken.
Ein zentraler Aspekt, den Ancelotti gemeinsam mit seinem Trainerteam bearbeiten muss, ist zudem das Umschalten von Offensive auf Defensive. Nach Ballverlust wirkten die Merengues in den ersten Partien oftmals nicht entschlossen genug im Gegenpressing, eine der Stärken der Vorsaison. Zudem wirkt die Balance zwischen Offensive und Defensive (auch im Sinne der Kontersicherung und Positionierung nach möglichen Ballverlusten) nicht auf dem Niveau der Vorsaison. Dies ist sicherlich auch mit der fehlenden körperlichen und mentalen Frische zu erklären, die aus der kräftezehrenden Vorsaison inklusive Europameisterschaft und Copa America resultiert.
Zum einen gilt es, das Fitnessniveau sukzessive zu steigern und stark belasteten Spielern Möglichkeiten zur Regeneration zu schaffen. Zum andern muss Ancelotti gezielt an Aspekten wie Gegenpressing, Kontersicherung und Energie in den Umschaltaktionen feilen. Hier spielt die Zeit für die Blancos.
Abschließend wirkt es so, als müsse die lediglich auf einigen Positionen veränderte Mannschaft zusammenwachsen. Real Madrid hat die vielen Henkelpötte der jüngeren Vergangenheit nicht ausschließlich aufgrund der spielerischen Klasse gewonnen. Entscheidende Aspekte waren stets der Glaube an den „Mythos Real“, die unbändige Energie des Madridismo und die immense Geschlossenheit in der Kabine. Die Abgänge von Kroos, Nacho oder Joselu tun nicht nur auf, sondern ganz besonders auch neben dem Platz weh. Hier wird wichtig sein, dass eine vergleichbare Struktur erwächst und andere Spieler – zum Beispiel ein Antonio Rüdiger oder ein Federico Valverde – diese Rollen übernehmen und eine vergleichbare Struktur mitentwickeln. Ancelotti wird hier wieder seine Führungskompetenzen einfließen lassen müssen, um maximalen Erfolg zu ermöglichen.
Nach den ersten viel Spieltagen in LaLiga wird deutlich, dass Real Madrid noch einige Baustellen aufweist, die es zu beheben gilt, wollen die Blancos am Ende der Saison erneut Titel einfahren. Dabei wird deutlich, dass Trainer Carlo Ancelotti nicht nur als Moderator und Menschenfänger gefragt sein wird. Darüber hinaus ist essenziell, die richtigen Stellschrauben im taktischen Konstrukt zu drehen. Dann dürfte das „neue Real“ – auch aufgrund der zunehmenden körperlichen und mentalen Frische – sein Potenzial schon bald stärker entfalten als in den ersten Wochen der jungen Saison.
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