Nach dem Messerangriff von Solingen hat sich die Terrormiliz IS zu der Tat bekannt. Experten schlagen Alarm, sehen eine erhöhte Anschlagsgefahr. Aber warum zielen die Islamisten auf Deutschland? Sie wollten einen islamistischen Gottesstaat gründen und eroberten in den Jahren 2014 bis 2016 große Teile Syriens und des Iraks. Männer mit schwarzen Fahnen, Sturmhauben und Maschinengewehren, die den Mord an Nicht-Muslimen im Internet öffentlich zur Schau stellten. Doch seitdem die Terrormiliz IS von einer internationalen Koalition unter Führung der USA zumindest militärisch besiegt wurde, ist es ruhig um die radikalen Islamisten geworden. Doch ganz weg waren sie nie. IS-Kämpfer gingen in den Untergrund, Schläferzellen warten bis heute auf eine erneute Chance, Angst und Schrecken zu verbreiten. So kehrt der Albtraum des islamistischen Terrors regelmäßig zurück in das Bewusstsein der Bevölkerungen vieler Staaten in Afrika, Asien und Europa. Es gibt regelmäßig Anschläge in Syrien , IS-Milizen erstarken in westafrikanischen Staaten. Und allein in diesem Jahr bekannte sich eine Untergruppierung der Terrormiliz im März zu einem Angriff auf die Konzerthalle "Crocus City Hall" in Moskau mit 144 Toten, zu einem versuchten Anschlag auf ein Konzert der Popsängerin Taylor Swift in Wien und nun zu einem Messerangriff in Solingen am Freitag, bei dem drei Menschen starben . All diese Taten zeigen vor allem eines: Die Terrormiliz IS wählt ihre Ziele zufällig und legt es vor allem auf öffentlichkeitswirksame Angriffe an. Das ist auch ein Zeichen der Schwäche, weil der IS im Ringen mit anderen radikalen Gruppierungen immer weniger Aufmerksamkeit bekommt. Das macht die Islamisten für Deutschland allerdings auch zunehmend gefährlich. Terrormiliz bekennt sich zum Anschlag in Solingen Der Anschlag von Solingen ist dafür ein gutes Beispiel. Der IS verbreitete Videos, in denen der mutmaßliche Täter Issa al-Hassan als Soldat des "Islamischen Staates" beschrieben wurde. Beweise sind das nicht. Es fehlte in den IS-Bekennerbotschaften exklusives Täterwissen oder eine Botschaft von al-Hassan. Es wird zwar ein vermummter Mann mit einer Machete gezeigt, bei dem es sich um den 26-jährigen Syrer handeln könnte, aber das wird auf Basis der IS-Bekennervideos nicht richtig ersichtlich. Die ermittelnde Bundesanwaltschaft zeigte sich jedoch bereits am Samstag überzeugt, dass Issa al-Hassan die IS-Ideologie teile und sich der Terrormiliz angeschlossen habe. Das könnte mit nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zusammenhängen, die nach dem Terrorangriff in Solingen aus dem Ausland übermittelt wurden. Issa al-Hassan soll aus Deir ez-Zor in Nordsyrien stammen, einer Region, in der die Terrormiliz IS noch heute vergleichsweise stark ist. Dort liefern sich die Islamisten noch immer Kämpfe mit den von den USA unterstützten kurdischen Milizen. Die Region zählt zu den wenigen Hochburgen, die der IS noch in der syrischen Wüste hat. Propagandakrieg des IS Diese wenigen Hochburgen des IS können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Terrormiliz deutlich an militärischer Schlagkraft verloren hat. Seitdem ihr Gründer Abu Bakr al-Baghdadi 2019 von US-Spezialeinheiten getötet worden war und in den Folgejahren auch drei seiner Nachfolger an der Spitze der Terrororganisation ausgeschaltet wurden, sind die zentralen Organisationsstrukturen des IS kaum noch vorhanden. Im August 2023 gab der IS bekannt, dass Abu Hafs al-Hashimi al-Qurashi nun der neue Anführer – der "Kalif" – der Islamistengruppe sei. Dabei handelt es sich um einen Decknamen, die genaue Identität des Mannes ist nicht bekannt, der Anführer tritt nicht öffentlich auf. Die Terrorganisation verbreitet ihre Propaganda über ihren eigenen Nachrichtenkanal Amaq. In den veröffentlichten Videos tritt die IS-Führung allerdings nicht in Erscheinung. In den vergangenen Jahren scheinen sich neben der Führung auch die Ziele des IS verändert zu haben. Unter al-Baghdadi ging es vor allem darum, ein Kalifat zu errichten, und durch die Eroberungen in Syrien und im Irak konnten die Islamisten auf Devisen und sogar auf Ölquellen der Region zugreifen. Das verbreitete Propagandamaterial diente dazu, radikale Islamisten von der IS-Ideologie zu überzeugen und sie in den sogenannten Islamistischen Staat zu locken. Das hat sich mit der militärischen Niederlage der Terroristen aber deutlich verändert. Danach kämpfte der IS stets ums Überleben, ist darauf angewiesen, dass er Devisen von ideologischen Verbündeten aus dem Ausland bekommt. Besonders perfide: Der Terror ist für die Miliz existenziell. Je mehr Schlagzeilen der IS durch Terrorakte macht, desto mehr Spenden bekommen die Terroristen von Gleichgesinnten. Deshalb ist es keine Überraschung, dass sich die Terrororganisation zu Attentaten wie in Solingen öffentlich bekennt. Wettbewerb des Schreckens Es handelt sich also um die Tötung von Menschen zu Propagandazwecken. Während es vor zehn Jahren noch das Ziel der Islamisten war, westliche Armeen von dem "heiligen Boden" im Nahen und Mittleren Osten zu vertreiben, inszeniert sich der IS nun als Verteidiger der muslimischen Sache. Dafür liefert der Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas in Gaza neue Munition für die IS-Propaganda. Bei dem gescheiterten Anschlag in Wien sowie beim Messerangriff in Solingen wird die Rache für die getöteten Zivilisten in Gaza als Motiv genannt. Dabei legitimiert der IS seinen Terror damit, dass Länder wie Deutschland Israel unterstützen. Mit dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza nähren sie die Wut ihrer Anhänger, um davon auch finanziell zu profitieren. Je größer die Terrorziele, desto besser für die IS-Propaganda. Deshalb drohten die Terroristen mit Anschlägen auf die Olympischen Spiele in Frankreich oder die Fußball-EM im Sommer. Der Terrorismusexperte Yeghia Tashjian von der American University Beirut sagte der "Tagesschau": "Der IS hat seine Fähigkeit verloren, eine organisierte militärische Truppe zu bilden. Stattdessen ist die Organisation in den Untergrund gegangen und ist damit noch gefährlicher geworden, wenn es um Terrorangriffe geht." Aber warum gefährlicher? Vor allem, weil der IS das Internet nutzt, um in vielen Staaten Schläferzellen zu errichten. Es geht darum, im Netz junge Männer zu rekrutieren, die bereit sind, Anschläge zu verüben. Die Terrormiliz setzt dabei immer wieder sogenannte Operatoren ein, die die Männer auf ihre Tat vorbereiten und die zu verhindern suchen, dass bei den Rekruten vor dem Anschlag Angst und Vernunft die Oberhand gewinnen. Von einem erfolgreichen Anschlag erhoffen sich die Terroristen neue Rekruten – ein Teufelskreis. Doch der IS ist aktuell geschwächt, auch deshalb versuchen die Islamisten, 2024 öffentlich in Erscheinung zu treten. In den vergangenen Jahren bekannte sich die Miliz zu immer weniger Anschlägen. Und der IS steht in stetiger Konkurrenz zu anderen radikalen Gruppen; in diesem Jahr stehen besonders die palästinensische Hamas und die libanesische Hisbollah im Fokus der Öffentlichkeit. Das erklärt, warum die IS-Aktivitäten in der öffentlichen Wahrnehmung seit der Eskalation im Nahen Osten zugenommen haben. Denn der internationale Terrorismus ist immer auch ein Wettbewerb des Schrecken – je mehr Akteure um Unterstützung ringen, desto größer ist die Gefahr, auch für Länder wie Deutschland.