Ist es an der Zeit, dass Deutschland und Europa ihr Verhältnis zu Russland überdenken und konkrete Schritte planen, wie es nach der aktuellen Konfrontation damit weitergehen soll? Ja, sagt der deutsche Unternehmer Ulf Schneider (57). Er warnt vor einem neuen Eisernen Vorhang und hält viele Entwicklungen der letzten Jahre für kontraproduktiv. Schneider ist geschäftsführender Gesellschafter der Schneider Group, eines Beratungsunternehmens, das er 2003 in Moskau aus der Taufe hob und das inzwischen in 15 Ländern vertreten ist.
Herr Schneider, Sie sind als Westdeutscher zu Zeiten des Eisernen Vorhangs aufgewachsen. Was hat das für Sie bedeutet?
Wir haben östlich von Hamburg in Schleswig-Holstein gelebt, 30 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt. Wenn wir gute Freunde von uns in Mecklenburg besucht haben, war das eigentlich nur ein Katzensprung. Aber diese 50 Kilometer kamen mir wie eine Weltreise vor und waren mit Furcht verbunden. Wir haben mehrere Stunden an der Grenze gestanden, bevor wir einreisen konnten. Und mein Vater hat mit seinen Bemerkungen die Abfertigung auch nicht gerade beschleunigt.
Wie ist Ihre Familie mit dieser Situation umgegangen?
Ich bin meinen Eltern bis heute dankbar, dass sie viel Wert auf die Besuche gelegt haben. Irgendwann haben wir uns mit unseren Mecklenburger Freunden sogar in Polen getroffen, damit sie zu Hause nicht jedes Mal von der Stasi behelligt werden, wenn wir wieder weg sind. Und in Polen habe ich dann auch die Grenze zur damaligen Sowjetunion gesehen, die ähnlich massiv war wie die deutsch-deutsche. Als ich wissen wollte, was das denn für ein Land ist jenseits des Zauns, da hat mein Vater gesagt: „Das ist Russland. Da wirst du in deinem Leben nie hinkommen.“
Was war die Mauer damals für Sie?
Etwas völlig Unnatürliches, das da nicht hingehört und das überwunden werden muss. Das war in meiner Kindheit, so wie ich sie in Erinnerung habe, eine große Vision. Und das ist schon etwas, was in mir auch sehr tief verwurzelt ist.
Unlängst hat die russische Nachrichtenagentur TASS Sie mit den Worten zitiert, ein neuer Eiserner Vorhang müsse unbedingt verhindert werden. Sie plädieren dafür, schon heute einen Plan zu entwickeln, wie die Beziehungen zwischen Europa und Russland wiederzubeleben seien, damit er umgesetzt werden könne, „sobald es die geopolitische Lage zulässt“. Wie kam es zu diesen Aussagen?
Ich habe mich mit Sergej Katyrin getroffen, dem Präsidenten der Handels- und Industriekammer Russlands. Im Ergebnis wurde eine Pressemitteilung aufgesetzt. Die Reaktionen? Das hat schon Wellen geschlagen. Neben Zustimmung gab es auch Kritik, zum Beispiel von meinen Kollegen in Kiew, wo unser Unternehmen ja ebenfalls ein Büro unterhält. Ich war zuletzt vor einigen Wochen dort, da hat mein Standpunkt nicht nur für Gegenliebe gesorgt. Aber ich achte schon darauf, dass ich das, was ich sage, überall vertreten kann, selbst wenn es hier und da zu etwas härteren Diskussionen kommt. Das habe ich in dem Fall gemacht und so soll es auch sein.
Warum dieser Appell und warum jetzt?
Man muss leider sagen, dass Stück für Stück ein neuer Eiserner Vorhang entsteht. Es gibt keinen direkten Flugverkehr mehr zwischen Europa und Russland. Die Visavergabe ist deutlich erschwert, zumindest in westlicher Richtung. An den Grenzübergängen sind teilweise Wartezeiten üblich, die man nicht einmal von der innerdeutschen Grenze kannte. Oft ist das die reinste Schikane. Ich erlebe das selbst, wenn ich zwischen unseren Büros hin- und herfahre. Und ich habe einen Sohn, der mit knapp drei Jahren seine Oma in Deutschland genau zwei Mal gesehen hat. Weil es heutzutage eben alles andere als einfach ist, von Moskau nach Frankfurt zu fliegen.
Was macht das mit den Menschen, die davon betroffen sind? Die werden doch in eine Ecke gedrängt, die wir uns nicht wünschen können. Das führt zu weniger oder gar keiner Kommunikation und ist kontraproduktiv. Deshalb kann ich diese Art von Sanktionen nicht gutheißen. Und es geht an der Stelle ja nicht nur um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen.
Sondern?
Es werden Länder, die sowohl mit Russland als auch mit dem Westen gute Beziehungen pflegen wollen, in eine Art Geiselhaft genommen. Länder wie Kasachstan, Armenien, Moldau und Serbien. Auf welcher Seite eines neuen Eisernen Vorhangs würden sie denn stehen? Wir bringen diese Länder in eine äußerst schwierige Situation, die eher zu weiterer Polarisierung beiträgt. Deshalb stehe ich Maßnahmen, die den Eisernen Vorhang vorantreiben, mit großer Ablehnung gegenüber. Verständigung, aufeinander zugehen, auch Handel miteinander treiben, das sind Mittel und Wege, wie in politischen Krisen ein Fundament geschaffen werden kann, um diese Krisen zu überwinden.
Viele, die sich für Verständigung mit Russland eingesetzt haben, halten ihre Bemühungen angesichts der Entwicklung für gescheitert. Und ist „Wandel durch Handel“ etwa aufgegangen?
Vielleicht ist „Wandel durch Handel“ nicht der richtige Begriff. Aber ich bin da nicht so negativ eingestellt. Historische Beispiele zeigen, dass eine wirtschaftliche Integration grundsätzlich eine gute Basis für gegenseitiges Verständnis und Miteinander darstellt. Nehmen Sie den Nordirland-Konflikt. Das sogenannte Karfreitagsabkommen von 1998 zur Lösung des Konflikts kam maßgeblich dadurch zustande, dass sowohl die Republik Irland als auch das Vereinigte Königreich Mitglied der EU waren. Die enge Verflechtung zwischen beiden Ländern durch den gemeinsamen Binnenmarkt hat diese Vereinbarung begünstigt. Umgekehrt sehen wir durch den Brexit Potenzial für neue politische Spannungen.
Sie gehören zu den Initiatoren einer Initiative, die sich seit 2015 für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok eingesetzt hat.
Wir hatten 120 Mitglieder: Firmen, Think Tanks und Unternehmerverbände aus zehn Ländern, sowohl im Westen als auch im Osten. Uns ging es darum, technische und bürokratische Hürden zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion zu beseitigen, Regelungen anzugleichen oder ihre gegenseitige Anerkennung zu erreichen. Mit dem Expertenwissen von Mitgliedern haben wir dazu in fünf Arbeitsgruppen sehr dezidierte Vorschläge erstellt. Aber seit dem 24. Februar 2022 ruhen sämtliche Gespräche komplett.
Wenn Sie heute dazu aufrufen, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Europa und Russland ins Auge zu fassen, dann meinen Sie in erster Linie wirtschaftliche Konzepte?
Wir brauchen einen Plan B für die Beziehungen auf ganz verschiedenen Gebieten. Den sollte man sich heute schon zurechtlegen, damit man ihn hat, wenn die politische Situation reif dafür ist. Man kann nie wissen, ob, wann und für wie lange sich so ein Zeitfenster öffnet. Deshalb sollte man darauf sehr gut vorbereitet sein. Wir sind Nachbarn, daran wird sich nichts ändern. Es hilft, vom Ende her zu denken und eine Vorstellung zu entwickeln, wie wir später einmal gemeinsam leben wollen. Wenn wir solche Zukunftsgedanken gar nicht erst zulassen, dann glaube und fürchte ich, dass wir damit eine Lösung des derzeitigen Konflikts erschweren.
Welche praktischen Schritte könnten aus Ihrer Sicht ergriffen werden, um die Kontakte wieder zu aktivieren?
Ein Anfang wäre, die Visavergabe wieder zu erleichtern. Eine weitere sinnvolle Maßnahme scheint mir die gezielte Förderung von mehr Miteinander in der Wissenschaft und Kultur. Selbst in den härtesten Zeiten der deutschen Teilung war es Common Sense, dass solche Kontakte wünschenswert sind. Und noch ein Beispiel: Es gab viele deutsch-russische Doppelstudiengänge, die sind stillschweigend eingestellt worden. Da hat man, soweit ich weiß, unter öffentlichem, vielleicht auch politischem Druck oder in vorauseilendem Gehorsam geltende Vereinbarungen ausgesetzt. Dieser Prozess sollte umgekehrt werden.
Ihr Appell richtet sich in erster Linie an die westliche Seite?
Er richtet sich an alle Seiten.
Viele westliche Unternehmen haben Russland seit 2022 verlassen, Sie sind mit Ihrer Schneider Group geblieben. Warum?
Was mir in den Medien zu kurz kommt: Die meisten westlichen Unternehmen sind immer noch in Russland. Dass da vielleicht manchmal ein falscher Eindruck entsteht, dürfte daran liegen, dass die, die gehen, das öffentlich kommunizieren, und die, die nicht gehen, das eher unter dem Radar zu halten versuchen. Das verzerrt die Wahrnehmung etwas. Was mich und mein Unternehmen betrifft, so stand auch ich vor der Frage, was aus meinen Büros in Russland wird. Ich habe dazu sehr viele Anfragen bekommen, sowohl von Medienvertretern als auch von Mitarbeitern. Mein Ansatz war immer, mich davon leiten zu lassen, was zu Frieden, Freiheit und Verständigung beiträgt. Auf Grundlage dieser drei Kriterien habe ich mich entschieden, mein Unternehmen weiter zu betreiben.
Das Interview führte Tino Künzel.
Запись Wie weiter mit den deutsch-russischen Beziehungen? „Wir brauchen einen Plan B“ впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.