Von Jewgeni Krutikow
Einen geheimen Plan Polens für den Fall eines vermeintlichen "Angriffs vonseiten Russlands" hat niemand geringeres als der polnische Verteidigungsminister höchstselbst dem Gegner verraten. So zumindest lauten die Vorwürfe, die der polnische Militärnachrichtendienst gegen Mariusz Błaszczak erhebt. Wie genau konnte es dazu kommen, und wie ernst ist dieses Leck für geheime Informationen?
Der polnische Militärnachrichtendienst informierte die Staatsanwaltschaft über den Verdacht gegen den früheren Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak. Ihm wird vorgeworfen, einen Teil des geheimen Plans der polnischen Streitkräfte für den Fall eines Angriffs aus Russland veröffentlicht zu haben. In einer Erklärung der Spionageabwehr heißt es:
"Die festgestellten Verstöße im Bereich des unsachgemäßen Umgangs mit Verschlusssachen und Handlungen zum Nachteil der Interessen zum Schutz von Verschlusssachen stellen Straftaten im Sinne der Kapitel XXXIII und XXIX des Strafgesetzbuches dar."
Jetzt ist Błaszczak wieder als gewöhnlicher Abgeordneter der Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, deutsch: Recht und Gerechtigkeit) im Sejm der Republik Polen tätig. Er ist kein Militär, sondern ein typischer europäischer Politiker, der seine politische Karriere als Kommunalabgeordneter in seiner Heimatstadt Legionowo nördlich von Warschau begann und schließlich die rechte Hand von Lech Kaczyński in der PiS wurde. Nach den jüngsten Wahlen für den Sejm musste die PiS in die Opposition gehen. Die Anhänger von Donald Tusk fangen nun mit der Jagd auf ihre Rivalen an, insbesondere auf diejenigen, die sie persönlich oder zu laut verärgert hatten.
Kürzlich nun hob der Sejm auf Antrag eines Vertreters des ehemaligen Befehlshabers der Streitkräfte, des Generals Tomasz Piotrowski, Błaszczaks parlamentarische Immunität auf, woraufhin die Einleitung von Ermittlungen der militärischen Spionageabwehr gegen ihn bekannt wurde. Als am meisten von Błaszczak beleidigt fühlen sich diejenigen polnischen Generäle, denen er als Verteidigungsminister Feigheit und Berufsunfähigkeit vorgeworfen hatte.
Im Kern der Sache geht es darum, dass der damalige Minister Błaszczak im vergangenen Jahr während des Wahlkampfes zum Sejm in einem Wahlkampfvideo der PiS-Partei einen im Generalstab der polnischen Armee entwickelten Plan "Warta" enthüllte. Błaszczak gab als Verteidigungsminister diesen Plan auf eigene Anweisung frei, gerade um ihn im Wahlkampf verwenden zu können. Inwieweit er dazu befugt war, sollen nun die Ermittlungen untersuchen.
Aufsehenerregend war die zentrale strategische Idee dieses Plans. Im Falle eines hypothetischen Angriffs Russlands und Weißrusslands auf Polen sollte sich die polnische Armee auf die befestigte Verteidigungslinie an der Weichselentlang der befestigten Linie der Gebiete (Brückenköpfe) Grudziądz – Toruń – Bydgoszcz und Otwock – Garwolin – Ryki zurückziehen. Es war geplant, die Verteidigung dort 10 bis 14 Tage lang zu halten, um auf Hilfe aus anderen NATO-Ländern zu warten. Was passiert wäre, wenn die Hilfe der NATO ausbleiben oder etwas schiefgehen würde, darauf gab es in dem freigegebenen Plan keine Antwort.
Somit schlug der Generalstab der polnischen Armee also vor, die östliche Hälfte des Landes bis nach Warschau sofort und kampflos aufzugeben, sich zurückzuziehen und sich an der Weichsel als natürlicher Barriere festzuklammern.
Dieser Plan stellt ein Spiegelbild der Lehren des Jahres 1939 dar, als die polnische Armee seinerzeit entgegen den Vorschlägen aus Paris und London direkt an der Grenze gegen die vorrückenden Deutschen kämpfte – und sehr schnell zerschlagen wurde.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erklärten später – vor allem angelsächsische – Militärtheoretiker, dass dieses Vorgehen fehlerhaft war. Ihrer Ansicht nach wäre es günstiger gewesen, sich von der Grenze zurückzuziehen und Polen entlang der Weichsel (damals allerdings von der anderen Seite) sowie um die befestigten Industriegebiete von Warschau – Modlin und Kraków – Katowice zu verteidigen. Das hätte angeblich England und Frankreich Zeit verschafft, um ihre Truppen dorthin zu verlegen. Vor einigen Jahren übertrug der polnische Generalstab diese Idee auf die heutigen Bedingungen und vertauschte nur den Westen gegen den Osten.
Die Offenlegung vor allem der geografischen Einzelheiten dieses Plans empörte eine Reihe pensionierter polnischer Generäle. Ihrer Meinung nach liefert die Veröffentlichung des Plans unnötigerweise Informationen an den russischen Militärgeheimdienst. Allerdings kamen dann auch noch innenpolitische Erwägungen ins Spiel.
Tatsache ist, dass der Warta-Plan die kampflose Überlassung der polnischen Ostgebiete vorsah, deren Bevölkerung als sehr konservativ, traditionell, katholisch und ländlich geprägt gilt. Dort lebt das polnische Äquivalent zu den nordamerikanischen Rednecks, wenn ein solcher Vergleich angebracht ist. Die Bevölkerung dieser Gebiete stellt die Kernwählerschaft der PiS-Partei dar. Die Partei Platforma Obywatelska (PO, deutsch Bürgerplattform) von Donald Tusk wird dagegen stärker im urbanisierten und westlich geprägten Teil des Landes – auch in Warschau – unterstützt, der ja laut dem Plan auch verteidigt werden sollte.
Die Botschaft des Wahlvideos von Mariusz Błaszczak war an die Wähler der PiS gerichtet. Die Liberalen und Pro-Europäer in der Partei von Donald Tusk sind bereit, euch – "echte Polen" – zu opfern, statt sie auf strategischer Ebene zu verteidigen. In diesem Zusammenhang stellte der Warta-Plan, der 2011 während der Amtszeit von Tusk als Premier ausgearbeitet worden war, den Ministerpräsidenten und seine Partei in etwa Landesverrätern gleich.
In Bezug auf die Wahltaktik schien dieser Schritt vorteilhaft zu sein, auch wenn die Partei von Tusk dank Warschau und anderer Großstädte im Westen des Landes immer noch gewinnen konnte. Letztendlich schadete Błaszczak mit seiner Aktion jedoch radikal der Glaubwürdigkeit Polens innerhalb der NATO.
Nicht alle NATO-Mitgliedstaaten verfügen über derartige Pläne der Generalstäbe zur "nationalen Verteidigung". Wenn es aber solche Pläne gibt, dann werden sie notwendigerweise mit dem NATO-Kommando koordiniert. Oder es werden zumindest Vorstellungen darüber ausgetauscht. Nun fragen sich die Militärs sowohl in der NATO als auch in Polen: Wie ist es möglich, dass eine Regierung in Warschau ihre mit der NATO abgestimmte Strategie zu Wahlkampfzwecken veröffentlichen kann? Welche anderen gesamteuropäischen oder NATO-Geheimnisse könnten polnische Politiker sonst noch öffentlich machen?
Hierfür ist kein gegnerischer Geheimdienst mehr nötig, die Polen schaffen es selbst. Der ehemalige Bürgermeister eines verschlafenen Vorortes von Warschau ist offenbar kein guter Kandidat für das Amt als Verteidigungsminister eines großen europäischen Landes. Aber so funktioniert das parlamentarische System, und zwar nicht nur in Polen, wenn die Karriere in der Partei in öffentliche Ämter Personen manövriert, die eindeutig nicht dafür geeignet sind.
Eine andere Sache ist, dass Tusk und sein Team aktiv mit der Entfernung ihrer politischen Gegner begannen, einschließlich derer, die in der Armee und den Sicherheits- und Geheimdiensten tätig waren oder sind. In diesem Zusammenhang können wir den Polen eine Verschärfung des politischen Kampfes wünschen. Es ist möglich, dass dabei viele weitere Dokumente entdeckt werden, die für den russischen Militärgeheimdienst von Interesse wären.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen in der Zeitung Wsgljad am 19. Juli 2024.
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