Während Wirtschaftsminister Robert Habeck durchs Land tourt, wird er auf einmal zu dem, der die Grünen in den nächsten Wahlkampf führen dürfte. Kann das gutgehen?
Es wird extrem heiß für Robert Habeck. Der Wirtschaftsminister ist zu Besuch in einer Glasfabrik. In der Produktion, wo mehrere Maschinen im Akkord glühende Flaschen ausspucken, herrscht das, was man eine Bullenhitze nennt. Die Ausrüstung, die Besucher hier tragen müssen, machen die Temperaturen nicht angenehmer. Mit seinem Schutzkittel, der Sicherheitsmütze und dem Gehörschutz samt Mikrofon sieht Habeck aus wie ein Hubschrauberpilot. Bereit zum Abflug.
Der Wirtschaftsminister ist auf Sommerreise, fünf Tage geht es quer durchs Land. Eigentlich soll es um Sachthemen gehen, die für ihn und sein Ministerium wichtig sind: Transformation der Wirtschaft, klimaschonende Industrie, neue Mobilitätskonzepte. Eigentlich. Bis Außenministerin Annalena Baerbock am Mittwoch am Rande des Nato-Gipfels im CNN-Interview verkündete, wegen der vielen Herausforderungen in der internationalen Weltlage nicht erneut Kanzlerkandidatin werden zu wollen. Darum ist der Donnerstag für Habeck plötzlich: der insgeheime Tag 1 seiner Kanzlerkandidatur.
Zwar bemüht sich Habeck, diese Feststellung als voreilig abzutun. Schon am Vorabend hatte er betont, dass die Gremien diese Frage beraten müssten und man die "richtigen Entscheidungen rechtzeitig verkünden" werde, aber allzu große Hoffnungen sollte sich, sagen wir, ein Toni Hofreiter jetzt auch nicht machen in Sachen K-Frage.
Die realpolitische Wirklichkeit ist nun mal diese: Mit Baerbocks Rückzug ist der Weg endgültig frei für den Mann, der eigentlich bereits 2021 der Kanzlerkandidat sein wollte. Er muss jetzt nur noch zugreifen. In den vergangenen Wochen und Monaten ging es immer nur um diese Frage: Baerbock oder Habeck?
Diese ewige K-Frage brodelte unterschwellig, auch wenn eigentlich klar war: Den offenen Machtkampf zwischen den beiden kann niemand gebrauchen. Hätte keiner zurückgezogen, wären in einer Urwahl alle Mitglieder befragt worden, so das Prozedere, auf das sich die Grünen geeinigt hatten, um eine Neuauflage der Hängepartie von 2021 zu vermeiden. Nur wären Baerbock und Habeck jetzt gegeneinander angetreten, hätten sich womöglich Verletzungen zugefügt und der Partei gleich mit.
Für ein solches Vorgehen sind die Probleme der Grünen ohnehin schon zu groß. Das schlechte Abschneiden bei der Europawahl hatte die Grünen in eine regelrechte Sinnkrise gestürzt. Längst wurde auch in der Partei debattiert, ob es bei einem solchen Ergebnis überhaupt einen Kanzlerkandidaten brauche.
Habecks Sicht auf diese vermaledeite K-Frage war lange Zeit diese: Wenn die Grünen einen Kandidaten ins Rennen schicken wollen, dann nur, wenn die Ampel als einigermaßen erfolgreich gesehen wird. Und wenn es so wäre, dann könnte es vielleicht auch ein bisschen an seiner Arbeit gelegen haben. Ein bisschen mehr vielleicht auch als an ihrer.
Nur wer sieht die Ampel schon noch als erfolgreich? Eine Koalition, bei der man froh sein muss, dass sie einen Haushalt zusammenkriegt – wenn sie das denn überhaupt schafft. Diesbezüglich hatte Habeck zuletzt keinerlei Illusionen mehr. Da ist nur noch die Hoffnung, dass die Konjunktur anspringt, irgendwann bald, damit sich rechtzeitig vor den Wahlen die Stimmung verbessert und mit ihr die Chancen.
Er ist davon überzeugt, dass die Stimmung der Lage immer hinterläuft, meistens mit einem Jahr Verzögerung. Er hofft darauf, dass die Erzählung der Ampel dann in einem Jahr etwas anders klingt, positiver, dass sie trotz allem Streit und Drama in dieser Lage das Land ein gutes Stück vorangebracht haben.
Aber so ist die Stimmung gerade nicht, ganz und gar nicht.
Wäre es allein nach Habeck gegangen, hätte man die Frage darum noch eine Weile unbeantwortet gelassen. Weiterhin, so wie in den letzten Monaten auch, egal, wie viel Journalisten wie oft danach fragen, zumindest solange, bis die Daten besser werden – die Konjunktur- und die Umfragedaten. Es sollte auch nicht absurd wirken oder anmaßend.
Gleichzeitig hat sich der Wirtschaftsminister in der vergangenen Zeit kaum verhohlen in Stellung gebracht. Mit eindringlichen Appellen zu den großen Fragen unserer Zeit demonstrierte er in Videos auf Social Media das, was ihm viele politische Beobachter als "kanzlerfähig" auslegten. Zuletzt bewährte er sich, auch aus Sicht der Grünen, in den schwierigen Haushaltsverhandlungen. Schließlich war er es, der gemeinsam mit dem Kanzler und dem Finanzminister um den Haushalt rang. Er – nicht Baerbock.
Entscheidet sich die Partei dafür, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen: Wäre er dann dieses Mal nicht sowieso am Zug, nachdem letztes Mal seine damalige Co-Parteichefin den Vortritt hatte? Daraus, wie enttäuscht er beim letzten Mal war, hatte er keinen Hehl gemacht: "Nichts wollte ich mehr, als dieser Republik als Kanzler zu dienen", sagte er damals in einem Interview. Manche Unterstützer der Außenministerin fanden, dass das gleichzeitig auch ein bisschen zu selbstgewiss klang, als wäre er auch der bessere Kandidat gewesen.
Man muss nicht davon ausgehen, dass Baerbock in der Frage kampflos aufgab. Die Außenministerin ist in der Partei gut verdrahtet und hat Netzwerke, die sie stützen. Viele im linken Flügel fremdeln mit Habeck, er gilt dort als einer, der zu pragmatisch ist, zu viele Kompromisse eingeht. So mancher hätte sich dort Baerbock gewünscht, die wie Habeck auch zum Realo-Flügel zählt.
Erst vor wenigen Wochen meldete sie sich in der "Süddeutschen Zeitung" zu Wort. Auf die Frage, ob eine Kanzlerkandidatin Baerbock möglich sei, sagte sie: "Als Außenministerin habe ich gelernt, dass alles möglich ist." Es war auch ein Testballon, wie das ankommt in der Partei. Oder wollte sie den Preis für ihren Verzicht in die Höhe treiben? Ob und was sich Baerbock für ihren Rückzug zusichern ließ, ist nicht bekannt.
In ihrer Nachricht an die Fraktion, die sie kurz nach ihrer Verkündung verschickte, warb sie dafür, ihre Entscheidung zu unterstützen. "Ohne Frage werde ich mich natürlich mit Verve in den grünen Wahlkampf reinhängen als Teil eines starken grünen Teams", schreibt sie darin. "Robert und ich gehen jetzt schon fast ewig gemeinsam durch dick und dünn und werden in den kommenden Wochen eng zusammenarbeiten."
Ob das so kommt, und wie viel Beinfreiheit einem Kandidaten Habeck tatsächlich gewährt würde, ist bislang offen. Die Entscheidung für den Oberrealo Habeck wäre auch eine, die das Gewicht im Streit um die generelle Ausrichtung der Partei verschieben dürfte. Nach dem desaströsen Ergebnis bei der EU-Wahl Anfang Juni ist die Partei erschüttert – und zutiefst verunsichert. Steckt man in der Krise, weil man in der Regierung zu viele Kompromisse eingeht? Oder weil man nach wie vor als zu ideologisch gilt? Habeck steht wie nur wenige andere in der Partei für den unbedingten Willen, bis weit ins bürgerliche Lager auszugreifen – und geht dabei für viele Grüne über die Schmerzgrenze hinaus.
Dass man sich nun an diesem Kurs orientieren müsse, davon will so mancher Grüner aber nichts wissen. Der Abgeordnete Sven-Christian Kindler, haushaltspolitischer Sprecher, betonte im Deutschlandfunk, dass Habeck und Baerbock gemeinsam mit den beiden Partei- und den beiden Fraktionsvorsitzenden Teil der sogenannten "Sechserrunde" sind, also des "strategischen Zentrums" der Partei. "Die Grünen sind aus meiner Sicht keine Partei, die von einer Person geführt wird." Wolle man im Wahlkampf oder als Partei erfolgreich sein, brauche es schließlich sehr viele Menschen, die sich für das Gemeinsame einsetzen.
Man müsse sich keine Sorgen machen, "das haben wir gut im Griff". So reagiert Habeck am Morgen dieses Sommerreisetages, als ihn die Journalisten mit ihren Fragen zur K-Frage bedrängen. Ob er denn nun kandidiere, wie und wo und wann, und wie groß denn die Chancen seien, dass die Grünen wieder Richtung 20 Prozent kommen können? Im Gehen raunt Habeck nur etwas von "großen Chancen".