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Vom Fußball lernen

Von Rüdiger Rauls

Stimmungsbarometer

Sichtweisen und Erkenntnisse über die Aussagekraft des Fußballs bezüglich der gesellschaftlichen Stimmungen sind nicht objektiv und schon gar nicht messbar. Aber kein anderer Sport erfasst so große Teile der Bevölkerung wie der Fußball. Allein aufgrund dieser Massen können Stimmungen, die sich dort zeigen, in gewisser Weise auch als gesellschaftlich bedeutsam angesehen werden.

Fußball weckt Begeisterung bei seinen Anhängern. Damit ist er das Gegenstück zu sonstigen Vorgängen und Abläufen in der Gesellschaft. Diese erzeugen sehr oft Ängste, weil sie unverständlich sind und deshalb als Gefahr empfunden werden. Begeisterung ist selten in der heutigen Gesellschaft, die zerrissen ist von Interessen und Konkurrenz. Sie ist für viele ein Gefühl, das sie im Alltag kaum kennen oder ausleben können.

Im Gegensatz zu den Zwängen und Bedrohungen in der Arbeitswelt und im Alltag versetzen die Kultur und besonders der Sport viele Menschen in einen Zustand von Unbeschwertheit und Sorglosigkeit. Die Macht des Fußballs liegt einerseits im Vergessen. Das spielt jenen in die Hände, die sich über den in ihren Augen dumpfen Proll erheben und ihn als von niederen Trieben gesteuert verachten. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn gleichzeitig schafft der Fußball stärker als jeder andere Sport das Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit.

Auf dem Platz wird erlebt, was in der Gesellschaft immer seltener zu finden ist: Einsatzbereitschaft und Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ziel, den Sieg. Aber es zählt nicht der Sieg allein. Es geht auch um einen Wert, der noch stärker wiegt: das schöne Spiel. Anhänger wie Spieler einer Mannschaft schmerzt zwar die Niederlage, aber es tröstet beide, wenn sie feststellen, dass alles in der Kraft Stehende gegeben und ein schönes Spiel gezeigt wurde. Das sind Sichtweisen, die in der Gesellschaft außerhalb des Platzes nur selten vorkommen.

Fußball und Staat

Fußball hat einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Er bereitet seinen Anhängern Freude, so wie für andere Kunst, Kultur oder sonstige Freizeitbeschäftigungen zu einem guten Leben gehören. Und die Menschen wollen ein gutes Leben führen. Das ist ihr gutes Recht. Die Zufriedenheit der Bürger festigt die gesellschaftliche Ordnung, weshalb sie auch Anliegen und Aufgabe von Staat und Gesellschaft ist. Das gelingt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft sehr oft nicht, weil ein grundlegender Widerspruch besteht zwischen den Interessen der gesellschaftlichen Mehrheit und denen der herrschenden Klasse und ihrer bestehenden Ordnung.

Wenn auch die Riege der dauerhaft und grundsätzlich Empörten es nicht glauben mag, aber der Staat versteht sich nicht als Folterkammer für seine Bürger. Die politische Führung einer Gesellschaft sieht es auch nicht als ihre vornehmste Aufgabe an, den Menschen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Im Gegenteil versucht jeder Staat, die Bürger durch die Befriedigung ihrer Bedürfnisse an die herrschende Ordnung zu binden. Dazu gehört neben den staatlichen Aufwendungen wie Sozialleistungen unter anderem auch der Fußball. Beide aber kosten viel Geld, was durch eigene Einnahmen immer seltener ausreichend vorhanden ist.

Aus diesem Grund sind Staaten wie auch die meisten großen Vereine hoch verschuldet und auf zusätzliche Einnahmen angewiesen. Der Staat beschreitet dabei den Weg der Kreditaufnahme an den Finanzmärkten. Privaten wie institutionellen Anlegern wird der Kauf von Staatsanleihen gegen Zahlung von Zinsen angeboten. Die Investoren sind die Retter des Systems; ohne ihr Geld wären die meisten Staaten längst pleite.

Mit dem Fußball ist es nicht anders, und so schien auch den großen Vereinen und der Deutschen Fußballliga (DFL) als deren Dachverband der einzige Ausweg aus dem Mangel an Kapital in der Beteiligung von Investoren. Klubs der Ersten und Zweiten Bundesliga suchten nach Möglichkeiten, Geldgebern den Zugang zum deutschen Fußball zu eröffnen. Im Mai 2023 gab es erste Interessenbekundungen von den "vier Private-Equity-Unternehmen Advent, Blackstone, CVC und EQT" an einer Zusammenarbeit mit der Deutschen Fußball Liga.

Die Investoren sollten eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Im Gegenzug wurden ihnen für zwanzig Jahre "rund acht Prozent der Einnahmen aus den Erlösen der Vermarktungsrechte" zugesagt. Damit die Vereine weiterhin das Sagen haben, sicherten sie sich die Entscheidungshoheit mit 50 Prozent der Stimmrechte plus einer Stimme. "Der Investor soll der DFL zufolge keinen Einfluss auf die Gestaltung des Spielplans haben, nicht gegen den Willen der Klubs Spiele ins Ausland verlegen oder Play-offs in der Bundesliga einführen können. All dies bleibe in den Händen der Klubs und der DFL."

Nicht mit uns

Schon sehr bald kam es zu Protest und Widerstand aus den Fangemeinden gegen diese Versuche der Führungskräfte, die Bundesliga noch stärker in das internationale Geschäft einzubinden. Denn aus den Ankündigungen, was mit dem Geld der Investoren geplant war, wurde sehr schnell deutlich, dass es in erster Linie um die Integration des deutschen Fußballs in den Weltmarkt gehen sollte. Von der einen Milliarde Euro sollten allein "600 Millionen Euro für die Kernvorhaben Digitalisierung und Internationalisierung" investiert werden.

Weitere 300 Millionen sollten nur dazu dienen, "zumindest für vier Jahre das Loch zu stopfen, das der Deal reißt". Das heißt, mit diesem Geld sollten die Ausfälle der Vereine ausgeglichen werden, die dadurch entstehen, dass sie in etwa acht Prozent der Einnahmen als Rendite an den Investor abtreten müssen. Für die Vereine selbst sollten nur 100 Millionen für Reisekosten bereitgestellt werden, "um beispielsweise zur Werbung für die Bundesliga in die USA oder Asien zu reisen".

Die Vereine unterhalb der Bundesliga wurden bei dem Geldsegen nicht bedacht, obwohl sie die eigentliche Aufbauarbeit leisten. Auch die Stadionbesucher gehen leer aus, die bei den Heimspielen die stimmungsvolle Kulisse schaffen, die Fußball erst zu dem machen, was er ist. Von denen dürften die meisten ihren Vereinen nicht auf die teuren Reisen in die USA und Asien folgen können. Dementsprechend sahen die Fußball-Anhänger vor Ort für sich keinen Nutzen im Einstieg eines Private-Equity-Fonds. Wenn den Fans und auch den Vereinsmitgliedern zugesichert worden war, dass der Investor nach der 50-plus-1-Regel keinen Einfluss auf den Spielbetrieb haben sollte, so kamen daran doch sehr bald Zweifel auf.

Fußball-Anhänger mögen zwar in Bezug auf die Fähigkeiten ihres Vereins mitunter sehr blauäugig sein, nicht aber in Bezug auf die Lebenswirklichkeit. Denn sie sehen sehr deutlich, dass mit dem dauerhaften Verzicht auf acht Prozent der Einnahmen die Deutsche Fußball Liga auf einen entsprechenden Umsatzzuwachs angewiesen ist, um der Verpflichtung gegenüber dem Investor gerecht zu werden. Was aber, wenn sich die Erwartungen der Investoren nicht erfüllen? Die Fans befürchteten, dass die "Private-Equity-Unternehmen mit ihren hohen Renditeerwartungen mindestens zu indirekter Einflussnahme" greifen könnten, um die Umsatzsituation zu verbessern.

Diese Befürchtungen bestätigten sich schon sehr bald, als der Vorstand von Hannover 96 am 11. Dezember 2023 für den Einstieg der Investoren gestimmt hatte. Dabei hatte sich ein Mitgliederbeschluss zuvor eindeutig gegen einen solchen Schritt ausgesprochen. Ab Mitte Dezember 2023 verschärften sich daraufhin die Proteste in den Stadien. Dabei deutet das Vorgehen der Fangruppen auf ein hohes Maß an Absprachen, Organisation und Kreativität ihres Protestes hin.

Kreative Dumpfbacken

Am 9. Dezember 2023 war es in vielen Stadien zu breit angelegten Protestaktionen durch Plakate und Gesänge gegen die DFL gekommen. In Augsburg forderten die Fans "DFL-Investoreneinstieg stoppen", in Freiburg "Gegen Investoren in Vereinen und Verbänden" und in Heidenheim "Es bleibt dabei! Keine Investoren in der DFL!". Das waren keine vereinzelten Proteste. Sie waren massenhaft und unübersehbar.

Anhänger mehrerer Bundesligisten demonstrierten bei Partien am Samstagnachmittag auf Bannern und Plakaten ihre Ablehnung. Die Kulissen waren übersät mit großflächigen Transparenten wie "Es bleibt dabei: Nein zu Investoren in der DFL!". Unübersehbar waren die unzähligen "Nein"-Plakaten, die bei jeder Übertragung den Fernsehzuschauer auf den Fan-Protest aufmerksam machten. Der Widerstand in den Stadien konnte von den Medien nicht unter den Tisch fallen gelassen werden, wenn man nicht auf die Übertragung der Spiele hätte verzichten wollen.

Ein weiterer Ausdruck des Protestes bestand in Schweigeminuten. In den Fankurven herrschte schlagartig eisiges Schweigen. Oftmals drehten sie sich um und wandten dem Spiel den Rücken zu. Dass dies in vielen Stadien gleichzeitig geschah und auch auf den Rängen diszipliniert eingehalten wurde, macht die Geschlossenheit und Vereinheitlichung des Protestes deutlich. Es gehört an hohes Maß an Disziplin und Bewusstsein dazu, eine so große Menschenmenge zu einem geschlossenen und einheitlichen Handeln zu bewegen. Davon könnten sich die wirkungslose Friedensbewegung und andere politisch zerstrittene Gruppen eine dicke Scheibe abschneiden beziehungsweise bei den Fußball-Fans in die Lehre gehen.

Im nächsten Schritt des Protests wurden in Anspielung auf die Käuflichkeit der Vorstände Goldtaler aus Schokolade auf das Spielfeld geworfen. Die Folge war, dass viele Spiele unterbrochen werden mussten, bis der Platz wieder frei war. Nach der Winterpause setzten die Fußball-Fans ihre Proteste nicht nur fort, sondern steigerten sie noch. Nun flogen nicht nur Goldtaler, sondern auch Tennisbälle. Viele Spiele mussten unterbrochen werden, manche standen kurz vor dem Abbruch oder konnten erst nach langer Unterbrechung wieder angepfiffen werden.

Die Proteste zeigten Wirkung. Zwei der ursprünglich vier interessierten Investoren zogen sich frühzeitig zurück. Am 13. Februar 2024 meldete das ZDF, dass auch der Investor Blackstone aus dem Bieterrennen ausgestiegen sei. Als Grund wurden ausdrücklich die Fan-Proteste genannt. So verblieb ab Februar 2024 nur noch die luxemburgische CVC, mit der die DFL den Prozess der Kommerzialisierung fortsetzen will.

Aber auch die Bedenken der Vereine wachsen. Denn so belastet war das Verhältnis zwischen den Führungen und den Fans noch nie. Viele fordern eine neue Abstimmung der DFL über den Einstieg von Investoren. Noch kann nicht gesagt werden, wie sich dieses Vorhaben entwickeln wird. Aber die Fans haben ihre Rivalitäten untereinander als Anhänger einzelner Vereine überwunden – zugunsten des gemeinsamen Kampfes gegenüber dem Kapitalinteresse von Investoren.

Fußball-Anhänger scheinen doch nicht so unpolitisch zu sein, wie viele der politischen Aktiven oftmals naserümpfend denken. Jedenfalls sind sie in ihrem Kampf erfolgreicher, weil sie in ihren Zielen klarer, in deren Vermittlung überzeugender und im eigenen Verhalten disziplinierter sind.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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