Bei der entscheidenden zweiten Runde der Parlamentswahl in Frankreich zeichnet sich die höchste Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten ab. Bis um 17.00 Uhr gaben 59,7 Prozent der Wähler ihre Stimme ab, das ist der höchste Wert seit 1981. Die Gesamtbeteiligung dürfte am Ende nach Prognosen mehrerer Institute bei rund 67 Prozent liegen, das wäre die höchste Zahl seit 1997.
Den Umfragen zufolge ging die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen als Favoritin in die Wahl, es ist jedoch schwer abzuschätzen, ob sie die absolute Mehrheit von 289 der 577 Sitze in der Nationalversammlung erreichen kann.
Die meisten Wahlbüros schließen um 18.00 Uhr, in den Großstädten erst um 20.00 Uhr. Die ersten Hochrechnungen werden um 20.00 Uhr veröffentlicht.
In mindestens 50 Wahlkreisen wird mit einem sehr knappen Wahlausgang gerechnet. Gewählt wird nach Mehrheitswahlrecht, das heißt, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis in die Nationalversammlung einzieht. Die Stimmen des Verlierers werden nicht berücksichtigt.
Nach den letzten Umfragen vor der Wahl könnte der RN auf 170 bis 230 Sitze kommen. Das wäre eine enorme Steigerung im Vergleich zur letzten Wahl 2022, bei der die Rechtspopulisten 89 Sitze erreicht hatte. Für eine absolute Mehrheit würde es jedoch nicht reichen.
In diesem Fall würde sich die Bildung von drei Blöcken in der Nationalversammlung abzeichen, welche die Regierung lähmen und das Land in eine politische Krise stürzen könnten: Die Rechtspopulisten zusammen mit konservativen Verbündeten, das Linksbündnis und das Mitte-Lager von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
Macron berief für 18.30 Uhr ein Treffen mit Premierminister Gabriel Attal und den Parteichefs des Regierungslagers ein.
Es gilt als wahrscheinlich, dass Attal im Fall einer Niederlage des Regierungslagers seinen Rücktritt einreicht. Macron könnte den Rücktritt annehmen und dennoch sein derzeitiges Kabinett als geschäftsführende Regierung vorläufig im Amt belassen, zumindest bis nach den Olympischen Spielen, die am 11. August enden.
Aus den Überseegebieten, die bereits am Samstag gewählt hatten, trafen am Sonntag bereits Ergebnisse ein. In Guadeloupe, Martinique und Guyana ging das links-grüne Wahlbündnis als Sieger aus der Wahl hervor - was jedoch nicht als nationale Tendenz gewertet werden kann. In Neukaledonien wurde erstmals seit 1986 ein Befürworter der Unabhängigkeit gewählt.
Macron hatte die Neuwahl überraschend nach dem Triumph des RN bei der Europawahl am 9. Juni ausgerufen. Im Fall einer absoluten Mehrheit der Rechtspopulisten im Parlament nach der Wahl am Sonntag könnte er politisch gezwungen sein, deren Parteichef Jordan Bardella zum Regierungschef zu ernennen.
Der RN und seine Verbündeten hatten in der ersten Wahlrunde 33 Prozent der Stimmen geholt. Das links-grüne Wahlbündnis Neue Volksfront lag mit 28 Prozent auf dem zweiten Platz, gefolgt vom Regierungslager mit rund 20 Prozent.
Da in der ersten Runde am 30. Juni bereits 76 Mandate vergeben wurden, sind nur die Wähler der verbliebenen 501 Wahlkreise aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Alle Kandidaten, die in der ersten Runde die Stimmen von mindestens 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler bekommen haben, dürfen an der Stichwahl teilnehmen.
Durch den taktischen Rückzug von mehr als 200 Kandidaten der linksgerichteten Neuen Volksfront und aus dem Regierungslager ist die absolute Mehrheit für den RN etwas weniger wahrscheinlich geworden. Die Kandidaten hatten sich zurückgezogen, um einen Durchmarsch des RN zu verhindern. Es ist allerdings nicht abzuschätzen, wie viele Wähler tatsächlich den Wahlempfehlungen der Kandidaten folgen, die sich zurückgezogen haben.
Auch die Höhe der Wahlbeteiligung und die Zahl der ungültigen Stimmen sind entscheidend. In der ersten Runde der Parlamentswahl vor einer Woche hatte die Wahlbeteiligung bei 66,7 Prozent gelegen.