Angesichts der Brisanz des Urnengangs strömen die Franzosen bei der entscheidenden zweiten Runde der Parlamentswahl in Scharen in die Wahllokale: Bis Sonntagmittag gaben laut offiziellen Angaben gut 26,6 Prozent der Berechtigten ihre Stimme ab - dies ist die höchste Beteiligung zu diesem Zeitpunkt seit 1981. Die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN) gilt als Favoritin der Wahl, es ist jedoch schwer abzuschätzen, ob sie die absolute Mehrheit erreichen kann.
Bei der ersten Wahlrunde vor einer Woche hatten um 12.00 Uhr 25,9 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, nun waren es gut 26,6 Prozent. In einigen Regionen lag die Beteiligung beim entscheidenden Wahlgang zur Zukunft des Landes sogar bei über 30 Prozent.
Die meisten Wahllokale schließen um 18.00 Uhr, in den Großstädten erst um 20.00 Uhr. Die ersten Hochrechnungen werden um 20.00 Uhr veröffentlicht. In mindestens 50 Wahlkreisen wird mit einem sehr knappen Wahlausgang gerechnet. Gewählt wird nach Mehrheitswahlrecht - das heißt, dass der Gewinner in einem Wahlkreis in die Nationalversammlung einzieht. Die Stimmen des Verlierers werden nicht berücksichtigt.
"Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte der Republik", sagte der Rentner Antoine Schrameck vor einem Wahllokal in einer Gemeinde nahe Straßburg. Auch mehrere prominente Politiker gaben am Sonntagmorgen bereits ihre Stimme ab, unter ihnen der frühere Premierminister Edouard Philippe, Regierungschef Gabriel Attal und Ex-Präsident François Hollande, der im zentralfranzösischen Département Corrèze in einer Stichwahl gegen eine RN-Kandidatin antrat.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte die Neuwahl überraschend nach dem Triumph des RN bei der Europawahl am 9. Juni ausgerufen. Im Fall einer absoluten Mehrheit der Rechtspopulisten im Parlament nach der Wahl am Sonntag könnte er politisch gezwungen sein, deren Parteichef Jordan Bardella zum Regierungschef zu ernennen.
Sollte der RN keine absolute Mehrheit bekommen, zeichnet sich die Bildung von drei Blöcken in der Nationalversammlung ab, welche die Regierung lähmen und das Land in eine politische Krise stürzen könnten. Es gilt als wahrscheinlich, dass Premierminister Attal im Fall einer Niederlage des Regierungslagers seinen Rücktritt einreicht. Macron könnte den Rücktritt annehmen und sein derzeitiges Kabinett als geschäftsführende Regierung vorläufig im Amt belassen, etwa bis nach den Olympischen Spielen, die Ende Juli beginnen.
Da in der ersten Runde am 30. Juni bereits 76 Mandate vergeben wurden, waren am Sonntag nur die Wähler der verbleibenden 501 Wahlkreise aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Alle Kandidaten, die in der ersten Runde die Stimmen von mindestens 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler bekommen haben, dürfen an der Stichwahl teilnehmen.
Durch den taktischen Rückzug von mehr als 200 Kandidaten der links-grünen Neuen Volksfront und aus dem Regierungslager ist die absolute Mehrheit für den RN etwas weniger wahrscheinlich geworden. Es war allerdings nicht abzuschätzen, wie viele Wähler tatsächlich den Wahlempfehlungen der Kandidaten folgen, die sich zurückgezogen haben, um RN-Kandidaten auszubremsen.
Auch die Höhe der Wahlbeteiligung und die Zahl der ungültigen Stimmen sind entscheidend. In der ersten Runde vor einer Woche lag die Wahlbeteiligung bei 66,7 Prozent.
Bereits am Samstag hatten die Franzosen in den französischen Überseegebieten ihre Stimme abgegeben. Die im Ausland lebenden Franzosen konnten bereits seit Mittwoch als einzige online wählen. In Frankreich gibt es keine Briefwahl, aber Wähler können eine Person ihren Vertrauens anmelden, die für sie die Stimme abgibt.
Der RN und seine Verbündeten hatten in der ersten Wahlrunde 33 Prozent der Stimmen geholt. Das links-grüne Wahlbündnis Neue Volksfront lag mit 28 Prozent auf dem zweiten Platz, gefolgt vom Regierungslager mit rund 20 Prozent. Die letzten Umfragen deuteten darauf hin, dass sich der Abstand zwischen den drei Blöcken verringern könnte.
Die Anspannung im Land ist groß. Vor der entscheidenden Wahlrunde wurden dutzende Kandidaten und Wahlkämpfer angegriffen, unter ihnen Regierungssprecherin Prisca Thevenot. Zur Absicherung des Urnengangs sind 30.000 Polizisten im Einsatz, 5000 von ihnen in Paris.