Im Gazastreifen ist der Tod allgegenwärtig. Laut einer AP-Untersuchung sind in manchen Familien nahezu alle Angehörigen den israelischen Angriffen zum Opfer gefallen. Das könnte auch im Völkermordverfahren vor dem IGH eine Rolle spielen.
Im Krieg zwischen Israel und der Hamas sind nach Angaben des von der Terrorgruppe kontrollierten Gesundheitsministeriums bislang mehr als 37.300 Bewohner des Gazastreifens getötet worden. Die Zahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Sicher ist aber, dass die Zivilbevölkerung in der abgeriegelten palästinensischen Enklave einen hohen Blutzoll zahlt für den Überfall der Hamas am 7. Oktober. Dabei hatten islamistische Angreifer laut israelischen Angaben 1194 Menschen ermordet und 251 Menschen verschleppt. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) sind bei den militärischen Auseinandersetzungen zudem ungewöhnlich viele Familien nahezu komplett ausgelöscht worden.
Allein zwischen Oktober und Dezember, der tödlichsten und zerstörerischsten Periode des Krieges, seien in mindestens 60 palästinensischen Familien mindestens 25 Menschen bei Bombenangriffen getötet worden – manchmal sogar vier Generationen derselben Blutlinie, berichtet AP unter Berufung auf eigene Untersuchungen. Fast ein Viertel dieser Familien habe in dem Zeitraum mehr als 50 Mitglieder verloren. In einigen Familien gebe es fast niemanden mehr, der die Verluste dokumentieren könne.
Die Nachrichtenagentur hat für ihre Untersuchungen nach eigener Aussage mehrere unterschiedliche Quellen ausgewertet: Aufzeichnungen des Gesundheitsministerium des Gazastreifens über die Opfer, Online-Todesanzeigen, Social-Media-Seiten und Tabellen von Familien und aus der Nachbarschaft, Berichte von Zeugen und Überlebenden sowie Opferdaten von Airwars, einer in London ansässigen Konfliktbeobachtungsstelle.STERN PAID 25_24 Hamas IV 7.30
Demnach seien mehr als 70 Mitglieder der Familie Mughrabi bei einem einzigen israelischen Luftangriff im Dezember getötet worden. Die Familie Abu Najas habe im Oktober mehr als 50 Angehörige verloren, darunter mindestens zwei schwangere Frauen. Aus dem großen Doghmush-Clan seien mindestens 44 Mitglieder einem Angriff auf eine Moschee zum Opfer gefallen und in den folgenden Wochen mehr als 100 Familienmitglieder getötet worden. Bis zum Frühjahr starben laut AP fast 100 Mitglieder der Familie al-Agha und mehr als 80 Angehörige der Familie Abu al-Qumssan durch israelische Angriffe.
Youssef Salem, der seit dem Krieg 2021 mit Frau und Tochter in Istanbul lebe, verlor AP zufolge im Dezember innerhalb weniger Tage 173 Verwandte. Bis zum Frühjahr sei ihre Zahl auf 270 gestiegen. Salem gehöre zu den allerletzten Überlebenden seiner Familie in Gaza.
Ramy Abdu, Vorsitzender der in Genf ansässigen Menschenrechtsorganisation EuroMed Human Rights Monitor, die den Gaza-Krieg überwacht, berichtete der Nachrichtenagentur, dass Dutzende seiner Mitarbeiter im Gazastreifen bis März mehr als 2500 Familien mit mindestens drei Todesfällen identifiziert hätten. Dann hätten sie aufgehört die Tode zu dokumentieren. "Wir können mit der Gesamtzahl der Todesopfer kaum Schritt halten", sagte Abdu.
Die Auslöschung mehrerer Familiengenerationen ist ein wesentlicher Bestandteil des Völkermordverfahrens gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Südafrika hatte dort Ende 2023 Klage eingereicht und Israel die Verletzung der Völkermordkonvention vorgeworfen. Das UN-Gericht hatte Israel in einer Eil-Entscheidung Schutzmaßnahmen auferlegt, um einen Völkermord zu verhindern. Zudem müsse das Land mehr humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zulassen. Ende Mai hatte der IGH Israel dann verpflichtet, den umstrittenen Militäreinsatz in Rafah im Süden des Gazastreifens unverzüglich zu beenden.FS Gaza-Proteste an Europas Unis 17.26
Israel bestreitet die Völkermordvorwürfe. Das Land beruft sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung nach dem Angriff der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober.
Quellen: Associated Press