Je höher der Umsatz, desto größer der Erfolg: Das Modehaus Chanel zeigt, dass diese Regel nicht mehr gilt. Denn trotz starker Bilanzen trennt sich die Marke von ihre Kreativchefin und Lagerfeld-Vertrauten Virginie Viard. Der Grund dafür ist bitter.
Der Himmel über Marseille war grau, dicke Regenwolken hingen über der Stadt an der Côte d’Azur, als Chanel hier Anfang Mai seine Cruise Collection zeigte. Die Linie, einst für reiche Kreuzfahrt-Fans erfunden, sollte eine sommerliche Stimmung erzeugen. Doch die Showgäste saßen frierend in 60 Meter Höhe auf dem Dach des berühmten Le Corbusier-Hochhauses "La Cité Radieuse". Kreativchefin Virginie Viard hatte das Gebäude als Location für ihre Kollektion gewählt, die von grafischen Schnitten und den typischen Bauhausfarben geprägt war.
Zwar sah man Miniröcke, Hoodies und Schluppenblusen, doch erinnerten manche Kleider an bunte, eher altbackene Küchenhandtücher, die Viard mit flachen Schuhen kombinierte, die besser zu einem Smoking gepasst hätten. Wenig schien an diesem Tag zusammenzupassen. Ein Gefühl, das sich auch in den Sozialen Medien widerspiegelte. Bei Instagram fiel die Kritik nahezu vernichtend aus: "Hässlich!", "Eine Katastrophe!", "Was ist nur aus Chanel geworden?"
Eine Frage, die sich auch die Führungsriege bei Chanel gestellt haben könnte. Denn knapp einen Monat nach der Cruise Collection verkündete die Modemarke, dass Virginie Viard das Unternehmen verlassen hat. Über die Gründe schweigt man, bestätigt ist aber, dass die Kreativchefin am 25. Juni ihre letzte Show für die Marke zeigen wird.
Dann endet eine Ära. Immerhin arbeitete Viard knapp 30 Jahre für Chanel. Einst hatte sie als Praktikantin im Stammhaus an der Rue Cambon begonnen, später arbeitete sie eng mit Karl Lagerfeld zusammen. Zu Lebzeiten sagte der Designer gerne über sie: "Sie ist meine rechte und linke Hand." Für viele war es deshalb nicht überraschend, als Viard 2019 Lagerfelds Nachfolge antrat. Doch anders als viele Designer, die ein Label übernehmen, vollzog sie keinen radikalen Wandel, sondern führte das modisches Erbe ihres Mentors konsequent fort.
Fünf Jahre prägte die 62-Jährige die Marke, schuf acht Kollektionen im Jahr und überblickte ein Imperium aus Kleidern, Brillen und Handtaschen. Zwar galt sie nie als Social Media-Liebling, häufig wurde sie für ihre Entwürfe kritisiert. Und doch verkauften sie sich. In ihrer Schaffenszeit wuchs der Umsatz um satte 75 Prozent. Erst Ende Mai verkündete Chanel, dass sich der positive Trend vorsetzt: 2023 sei der Umsatz um 16 Prozent auf mehr als 18 Milliarden Euro gestiegen. Während die Zahlen von Konkurrenz-Marken wie Gucci zuletzt um 40 Prozent in den Keller sausten, behauptete sich Chanel trotz Konsumflaute im Luxusmarkt. STERN PAID Chanel Show 10.52
Doch die starken Umsätze der Marke zeigen auch: Längst sind sie kein Garant mehr, dass Designer wie Virginie Viard fest im Sattel sitzen. Wer nicht auch auf Social Media gut performt und regelmäßig Hysterie für begehrte Produkte auslöst, ist seinen Posten schnell wieder los.
In der Branche werden längst verschiedene Nachfolger gehandelt. Ganz vorn mit dabei: Hedi Slimane. Sein Name wird seit Jahren mit Chanel in Verbindung gebracht. Karl Lagerfeld hielt große Stücke auf den französischen Designer und hungerte sich sogar in die Anzüge, die Slimane einst für Dior Homme entwarf. Aktuell verantwortet er das Design der gehypten Kultmarke Celine. Doch da er sich in Vertragsverhandlungen befindet und mit LVMH, dem Mutterkonzern der Marke, seit Monaten über die Konditionen streitet, könnte er bald frei sein.
Auch Pierpaolo Piccioli würde für den Chanel-Job infrage kommen. Viele Jahre schuf er die Mode von Valentino und machte die Marke erfolgreich.
Und auch der Name Sarah Burton fällt immer wieder. Die Britin hatte es nach dem Tod von Alexander McQueen geschafft, die Marke neu zu beleben. Dass sie Chanel-Nachfolge antreten wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Zwar würde eine Frau gut zum Markenkern passen, immerhin wurde Chanel einst von einer Frau gegründet. Doch schaut man sich um in der Modewelt, sind aktuell fast alle Kreativchef-Posten von Männern besetzt. Auch deshalb wird Virginie Viard fehlen.