Wenig Fußball, viele Gespräche: In einem thüringischen Dorf erwartet das Team täglich wechselnde Gäste. Der Bundespräsident ist geladen – und eine Gruppe krisenerprobter Polizisten.
Das Spruchband am Ortseingang verspricht Großes. "Welcome World“ heißt es dort zur Begrüßung. Es ist zwar nur die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu Gast in Blankenhain, inklusive deutscher Fans, doch für das thüringische Dorf, dessen ganzer Stolz das "einzigartig liebevoll eingerichtete Apothekenmuseum“ darstellt, öffnet sich in diesen Tagen tatsächlich eine neue Welt.
Blankenhain hofft, zu einem mythischen Ort zu werden, so wie dies dem Schweizer Bergdorf Spiez gelang, in dem die Weltmeister von 1954 nächtigten. Vom "Geist von Spiez“ ist im deutschen Fußball noch heute beschwörend die Rede; magische Kräfte werden auch der Sportschule Malente in Ostholstein zugeschrieben, der Herberge der WM-Helden von 1974.
Nun also Blankenhain. Gelegen zwischen Erfurt und Jena, 7000 Einwohner, sanfte Hügelketten, "ein Ort, wo man gut Ruhe findet“, wie Julian Nagelsmann sagt. In einem Wellnesshotel mit angeschlossenem Fußballplatz hat der Bundestrainer seine Spieler versammelt, mit denen er die in 19 Tagen beginnende Europameisterschaft bestreiten will.
Komplett ist das Team noch nicht. Toni Kroos und Antonio Rüdiger (beide Real Madrid) sowie Niclas Füllkrug und Nico Schlotterbeck (beide Borussia Dortmund) fehlen, weil sie am Samstag in London das Champions League-Finale spielen. Torwart Manuel Neuer, derzeit von einem Magen-Darm-Virus niedergestreckt, wird nachreisen, ebenso wie Ilkay Gündogan und Marc-André ter Stegen, die am Sonntag noch in der spanischen Liga im Einsatz waren. Entschuldigt sind auch die Leverkusener Florian Wirtz, Jonathan Tah und Robert Andrich, die sich vom DFB-Pokalfinale und den anschließenden Festivitäten erholen dürfen.
Die Abwesenden werden nicht allzu viel Unterrichtsstoff verpassen, denn Nagelsmann möchte die Blankenhainer Tage vor allem dazu nutzen, sich behutsam einzuschwingen für das Turnier. Das bedeutet: wenig straffe Trainingseinheiten, viele Pausen, viele Gespräche.
Teil des Teambuildings in Thüringen sind auch die Frauen und Familien der Spieler. Am Dienstag gibt es eine Grillparty, an der unter anderem Sabrina, die Frau von Sportdirektor Rudi Völler teilnimmt – obwohl sie ursprünglich lieber nach Rom geflogen wäre, wie Völler verriet. "Ich habe ihr dann gesagt, dass wir auch hier gutes Wetter haben. Jetzt ist sie dabei. Nee, macht se wirklich gerne.“
© Federico Gambarini
Mittwochnachmittag kommt dann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch ins DFB-Camp. Steinmeier wird zu den Spielern sprechen und sich im Anschluss von Trainer Nagelsmann über den Stand der Vorbereitungen unterrichten lassen. Es wird wohl ein Fachgespräch werden, wie DFB-Präsident Bernd Neuendorf meint, "Steinmeier kennt sich aus mit Fußball. Er hat ja früher selber, Sie wissen schon.“
Weil es keinen Tag ohne Entertainment geben darf, sind für Donnerstag Mitglieder eines Sondereinsatz-Kommandos (SEK) nach Blankenhain geladen. Eine Idee des Mannschaftspsychologen Hans-Dieter Hermann, die Nagelmann gern aufgegriffen hat. "Ich verspreche mir viel davon“, sagte Nagelsmann, "in Krisensituationen kühlen Kopf behalten, perfekt kommunizieren, Lösungen finden. Wir werden einiges daraus ziehen können für uns.“
Nagelsmann selbst hat auch Rat gesucht in den vergangenen Wochen. Er hat mit Joachim Löw und Hansi Flick gesprochen, seinen beiden Vorgängern. Seine Frage lautete: Wie geht man als Trainer durch so eine EM? Was hilft? Was lenkt nur ab?
Nagelsmann, 36, ist noch ein Lernender im Job des Bundestrainers. Bis zum Oktober vergangenen Jahres hatte er ausschließlich Vereinsmannschaften betreut; Hoffenheim, Leipzig und den FC Bayern. Seine Erfahrung beschränkt sich auf sechs Länderspiele und drei Lehrgänge. Wie sich eine EM anfühlt, kann er nur erahnen. "Vielleicht wie ein harter Champions League-Monat mit sechs oder sieben Spielen“, mutmaßt er. "Du sitzt ständig im Büro und bereitest den nächsten Gegner vor.“
DFB Nationalmannschaft Trikots 15:55
Die erfahrenen Kollegen Löw und Flick, beide Weltmeister 2014, konnten Nagelsmann allerdings kein Survival-Kit für die EM schnüren. Ihr Rat: "aufs Bauchgefühl hören“, "nicht verrückt machen lassen“, den "eigenen Weg gehen“. Alles andere füge sich von selbst, sobald das Turnier begonnen habe.
Kalenderblatt-Weisheiten, nun aber weiß Nagelsmann, dass die sogenannte Heim-EM wohl nur ein Scheinriese ist wie Herr Tur Tur aus "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Je näher Jim ihm kam, desto kleiner und weniger furchterregend wurde er.
