Hendrik Wüst gilt in der CDU schon länger als Kanzlerkandidatenreserve. Sieht man sich seine Zustimmungswerte an, stünden die Chancen nicht schlecht. Aber: Friedrich Merz ist so gefestigt wie nie. Hat Wüst überhaupt noch eine Chance? Als Hendrik Wüst den Raum betritt, wandert sein Blick zuerst durch die Gesichter. Aufmerksam scannt er das Publikum. Er weiß, dass dieser Termin über Wochen vorbereitet wurde, jede Minute genau geplant ist. All die Mühe für seinen Besuch. Er streckt die Hand aus und sagt mit einem zurückhaltenden Lächeln: "Hendrik Wüst, vielen Dank, dass ich hier sein darf." Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen (NRW) besucht an diesem Morgen ein Ausbildungszentrum für angehende Handwerker. Termine wie diesen macht er gern, sie liegen ihm. In der Werkstatt zieht er das Sakko aus, die Schürze über und fängt an zu sägen. Gute Bilder, keine Frage. So was hat Wüst ohnehin im Blick. Aber am Ende passiert noch was anderes. Wenn er später den Raum verlässt, werden die Gesichter derer, die er die letzte halbe Stunde bearbeitet hat, strahlen. "Wie schön, dass Sie hier waren", werden sie sagen. Wüst lächelt dann breiter. Er hat überzeugt. 30 Minuten haben gereicht. Merz sendet ein klares Zeichen in Richtung K-Frage Wüst kann das: Menschen für sich einnehmen, sie überzeugen. In der Union gehört er deshalb schon länger zur Führungsreserve. Allerdings auch, weil die Frage der Kanzlerkandidatur nach wie vor nicht endgültig geklärt ist. Als Parteivorsitzender ist Friedrich Merz zwar der logische erste Anwärter. Auch Markus Söder spielt immer eine Rolle – wofür der CSU-Chef im Zweifel selbst sorgt. Aber Wüst zählt seit Monaten zu den Favoriten in seiner Partei. Weit über die NRW-Landesgrenzen hinaus fällt sein Name in den Reihen der Union immer wieder, wenn es darum geht, wer für die Kanzlerkandidatur noch infrage käme. Und weil Merz bis vor Kurzem nicht allzu deutlich werden wollte, wie seine Ambitionen in der K-Frage aussehen, konnte Wüst mit der Option kokettieren, ohne sich zu weit vorzuwagen. Bis jetzt. In einem Gespräch mit dem "Stern" ließ Merz plötzlich keinen Zweifel mehr daran, dass er sie will: "Ich fühle mich fit und mein Alter kann ich nicht ändern", sagte der CDU-Chef dem Wochenmagazin. Mangelnde Popularität bei Frauen, wie von Medien vielfach problematisiert? Könne er nicht feststellen. Von Selbstzweifeln, die Merz zu Beginn des Jahres noch durchblicken ließ, keine Spur. Stattdessen der Verweis auf bisherige Wahlerfolge. Sie hätten gezeigt, "dass unsere Strategie richtig ist", so Merz. "Ich erwarte Zusammenhalt und Loyalität", sagte er, wohl auch in Richtung Söder und Wüst. Ist die Sache damit nicht klar? Jein. Tatsächlich stellt den CDU-Chef in der Partei kaum mehr jemand infrage. "Der Einzige, der Friedrich Merz jetzt noch verhindern kann, ist Friedrich Merz", ist der Satz, der häufig in seinem Umfeld fällt. Stand heute läuft alles auf ihn hinaus. Horcht man allerdings in die Partei hinein, heißt das umgekehrt nicht, die Frage sei endgültig geklärt. "Der Fahrplan zur Klärung der K-Frage steht. CDU und CSU werden sich nach den drei Landtagswahlen in den Neuen Ländern auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Dabei werden die Landesverbände ein erhebliches Wörtchen mitreden. Das stellt auch niemand mehr ernsthaft infrage", so heißt es aus CDU-Kreisen. Andere verweisen auf den CSU-Chef Markus Söder. Der habe schon recht, wenn er sage, es sei einfach noch sehr viel Zeit. So ganz geklärt scheint die Sache also noch nicht. Und Wüst? Der hält erst einmal die Füße still – und beobachtet. Kein Bierzeltredner Dass Wüst überzeugen kann und anschlussfähig ist – daran zweifelt in der CDU kaum jemand. Vor allem in kleineren Runden mit weniger Menschen ist er, was man in der Politik einen "Menschenfänger" nennt. Er ist dann aufmerksam, neugierig, geduldig und am wichtigsten: charmant. Dass jeder dieser Momente sorgfältig orchestriert ist, merken dabei die wenigsten. Wichtig ist: Es funktioniert, für beide Seiten. Vor ein paar Wochen ist der NRW-Ministerpräsident zum ersten Mal im Politiker-Ranking eingestiegen. Auf Platz zwei, direkt hinter Verteidigungsminister Boris Pistorius. Vor Friedrich Merz – und Markus Söder. Vor Wüst ist das bisher noch keinem Landesvorsitzenden gelungen, der nicht auch Parteivorsitzender war. Spricht man ihn darauf an, sagt er nur: "Ach, diese Rankings. Da darf man nicht zu viel drauf geben." Ganz bodenständig, klar. Dabei dürften Wüst und sein Umfeld die Umfragen sehr wohl im Blick haben. Sie könnten am Ende eine wichtige Rolle spielen, wenn es um die Frage geht, mit wem die Union die besten Chancen auf einen Wahlsieg hat. Das Problem: Wüst ist zwar beliebt. Allerdings ist er – anders als Markus Söder und Friedrich Merz – vielen Deutschen kein Begriff. Er ist nicht bekannt genug. Hinzu kommt, dass Wüst sich bislang eher zurückhielt, wenn es um die K-Frage ging. In der CDU sagen sie aber, ein Ministerpräsident von NRW müsse sich immer auch selbst für kanzlertauglich halten. Will der CDU-Politiker tatsächlich Kanzlerkandidat – und damit potenziell Kanzler – werden, muss er nicht nur weit über die nordrhein-westfälischen Landesgrenzen hinaus überzeugen, sondern auch deutlich machen, dass er die Kandidatur will. Ein Teil der Deutschen kann Wüst noch nicht zuordnen Am vergangenen Freitag ist Wüst zu Besuch bei der Regionalkonferenz seiner Partei. Der Abend findet im Festsaal Gürzenich in Köln statt, das Publikum ist größtenteils aus NRW. Eigentlich ein Heimspiel für den Ministerpräsidenten. So richtig sticht Wüst an diesem Abend jedoch nicht raus. Das mag daran liegen, dass die Parteispitze die Landesvorsitzenden bei diesen Terminen bewusst nur bedingt einbindet. Schließlich soll es vor allem um das neue Grundsatzprogramm, Friedrich Merz und seinen Generalsekretär Carsten Linnemann gehen. Termine wie dieser sind aber auch, was man daraus macht. Es gibt da verschiedene Sorten von Politikern. Ein Markus Söder etwa lässt keine Bühne ungenutzt. Egal, ob er der Main Act oder die Vorgruppe ist. Binnen Minuten kann der CSU-Chef einen Saal für sich gewinnen. Aber Hendrik Wüst? Ist kein Bühnen-Entertainer. Selbst dann nur selten, wenn er selbst der Hauptredner ist. Und schon gar nicht, wenn er eigentlich nur einen Impuls geben soll. Der CDU-Mann, der 2021 als NRW-Ministerpräsident auf Armin Laschet folgte, meidet klassische Bierzeltreden. Wüst ist nicht impulsiv, gehört auch nicht zu der Sorte Hau-Drauf-Politiker. Er tritt bewusst bedacht auf, wägt immer erst ab. Mit wem er spricht, was er sagt, welches Bild entsteht. Nichts ist dem Zufall überlassen. Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein sagt über Wüst, er sei "ein kluger, besonnener und weitsichtiger Politiker". Auftritt und Zielgruppe – worauf Wüst setzt Das bedeutet zum einen, dass Wüst nicht polarisiert. Dass er mehr in die Kategorie "Feel-Good-Politiker" fällt. Parteikollegin Serap Güler sagt etwa, es gelinge ihm, "den Menschen auch konservative Themen, wie eine restriktive Migrationspolitik, nahezubringen. Er kommuniziert menschlich und sympathisch, was in der Politik den wenigsten so gelingt wie ihm." Etwas, womit der CDU-Chef deutlich zu kämpfen hat. Laut einer aktuellen Umfrage für den "Stern" halten Friedrich Merz gerade mal 22 Prozent der Befragten für sympathisch. Aber reicht das, sympathisch zu sein? Bei einer Umfrage des ZDF-Politbarometers sagten 33 Prozent der Befragten kürzlich, sie hielten Wüst für einen geeigneten Bundeskanzler. Bei Merz waren es 31, bei Söder 38 Prozent. Während bei CDU- und CSU-Chef jedoch jeweils 61 und 57 Prozent sagten, sie seien nicht geeignet, waren es bei Wüst nur 33 Prozent. Sprich: Während die meisten bei Merz und Söder entschieden scheinen, ist sich bei Wüst noch ein Drittel der Befragten unsicher. Wohl auch, weil sie den Mann aus Nordrhein-Westfalen nicht ausreichend einschätzen können. Eigentlich arbeitet Wüst längst daran, auch jenseits von NRW bekannter zu werden. Im Januar besuchte der CDU-Politiker die Grüne Woche in Berlin . Im Februar nahm er an der Münchener Sicherheitskonferenz teil. Wüst geht auf die Parteitage anderer Bundesländer, besucht internationale Partner und tritt häufig in den Wahlkämpfen anderer auf. Die Mühen lohnen sich: Seine Drähte in andere Bundesländer sind auffallend gut. Sein hessischer Amtskollege Rhein betont mit Blick auf Wüst: "Wir stimmen uns eng ab und können uns voll aufeinander verlassen." Der Landesvorsitzende aus Niedersachsen, Sebastian Lechner, sagt, die CDU könne froh sein, jemanden wie Wüst in der Führungsriege zu haben. Immerhin habe der gezeigt, wie man Wahlen gewinnen kann. "Hendrik Wüst ist ganz sicher für die wichtigen Führungsaufgaben in diesem Land bestens geeignet", so Lechner. Und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer lobt: "Man spürt seine großen Verhandlungserfahrungen aus der Privatwirtschaft." Wüst sei in entscheidenden Situationen, wie den Bund/Länder-Verhandlungen, präzise und hart in der Formulierung von Positionen. Problem: Hier handelt es sich vorwiegend um Parteikollegen auf Augenhöhe. Was Wüst jedoch im Zweifel braucht, ist die Basis. Die Mitglieder, die sich für ihn in die Bresche schlagen. Um dann letztlich die breiten Massen, also Wählerinnen und Wähler, zu überzeugen. Ein Wüst nahestehender CDU-Politiker glaubt, dass noch ausreichend Zeit ist, um die Gunst der Basis zu gewinnen, sollte er wirklich höhere Ämter anstreben. Und das Problem der Bekanntheit werde sich spätestens zum Zeitpunkt einer potenziellen Kanzlerkandidatur von allein klären. Sicher schadet es nicht, wenn man mit einem Schlag ganze Hallen von sich überzeugen kann. Gleichwohl ist der letzte Kanzlerkandidat aus der Union an etwas ganz anderem gescheitert: fehlender Impulskontrolle. Ganz erledigt hat sich die K-Frage in der Union also offenbar noch nicht. Mit den Landtagswahlen und der Europawahl liegen vor CDU-Chef Merz noch größere Hürden. Aber auch Wüst wird, wenn er ernsthafte Ambitionen hat, noch ein paar Meter gehen müssen. Einer wird das ganz gewiss genau beobachten und im Zweifel jedes noch so kleine Fenster für sich zu nutzen wissen: Markus Söder.