Von Elisabeth Maier
Heidelberg. Die frühe Demütigung durch den gefühlskalten Vater hat das Leben der jungen Frau zerstört. Beim gemeinschaftlichen Grillen der Familie sucht sie Ruhe im Schatten eines Baums. Da kleben ihre Haare plötzlich in der harzigen Rinde fest. Mit einer Küchenschere schneidet ihr der Vater die Haare ab. Mit diesem bösartigen Ritus beginnt der Leidensweg der Heldin in Maria Velascos Stück "Ich will die Menschen ausroden von der Erde". Mit dem starken, poetischen Text entschied die Dramatikerin und Regisseurin den internationalen Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts für sich. Die Auszeichnung, die das Land Baden-Württemberg gestiftet hat, ist mit 5000 Euro dotiert.
Die Vielfalt der Stimmen und Formen dominierte am Wochenende beim internationalen Wettbewerb wie auch bei den Gastspielen spanischer Bühnen. Drei Autorinnen und einen Autor hat das spanische Kuratoren-Team José Manuel Mora und Carlota Ferrer ausgewählt. Mit Maria Velasco siegte eine Dramatikerin, die nicht nur radikal einen feministischen Ansatz verfolgt. Formal überzeugte ihr Text in der Vierer-Auswahl durch die Lust am Experiment ebenso wie durch Sprachkraft: "Sie sieht aus wie eine Kahlköpfige, eine dieser Frauen, die geschoren wurden und gedemütigt, in Francos Spanien, oder im Zweiten Weltkrieg. Und da tröstet sie der Baum." Große poetische Bilder verbindet Velasco mit dem kritischen Blick auf die politische Wirklichkeit in dem südeuropäischen Land, das von katholischer Tradition geprägt ist. Franziska Muche hat die großen Sprachbilder kongenial übersetzt.
Neue Dramatik auch jenseits der Metropolen Madrid und Barcelona zu entdecken, war das Ziel von Ferrer und Mora. Inhaltlich überzeugte auch Xavier Uriz‘ Text "Thanatologie". Darin geht es um eine Häufung von Suiziden in der Gesellschaft, die schließlich als Pandemie eingestuft werden. Klug, wenngleich formal zu schlicht gebaut, spiegelt der mallorquinische Autor die politische Dimension der Vereinzelung in der Gesellschaft und der Suizide in einem persönlichen Schicksal. Thomas Sauerteig hat den Text aus dem Katalanischen übersetzt. Ein junges Publikum spricht Ruth Rubio mit dem Stück "Die Feuerfesten (Universum 29)" an. Der spielerisch konzipierte Text bezieht sich auf ein Experiment, das der Verhaltensforscher John B. Calhoun 1972 mit Ratten durchführte.
Auch bei der Auswahl der Produktionen am Spanien-Wochenende setzten die Kuratoren auf ein breites Spektrum. Die Autorin Rocio Bello, deren Familiendrama "Mein Italienfilm" ebenfalls im Autor:innenwettbewerb vertreten war, gastierte mit ihrem Kollektiv "Los Bárbaros". Das Team aus Madrid verbindet Fiktion und Wirklichkeit mit Videokunst. Im Stück "Die Erklärungen" begeben sich die Theaterschaffenden auf die Suche nach den Wurzeln ihrer eigenen Theaterkunst. Auf der Leinwand wie auf der Bühne fanden die Performerinnen Rocio Bello und Elena H. Villalba schnell einen Draht zum Publikum.
Neben der Shakespeare-Überschreibung "Othello" des jungen galizischen Autors Fernando Epelde und der Regisseurin Marta Pazos (s. o.) zeigten die Gastland-Scouts Ferrer und Mora im Marguerre-Saal des Theaters auch eine eigene Produktion. "Fragen ans Universum" hat José Manuel Mora in der Zeit des Lockdowns geschrieben. Die charismatische Schauspielerin Carlota Ferrer, die bei der Produktion auch Regie führte, war als Protagonistin in dem Stück zu erleben, das die Suche nach dem Geheimnis des Lebens thematisiert. Liebevoll trägt die Schauspielerin ein Totengerippe über die Bühne. Die Schönheit ihrer Bewegungen fesselt das Publikum.
Umrahmt ist die Produktion von Videobildern, die Zoom-Konferenzen der Theatermacher zeigen. Wie lässt sich im Chaos der Vereinsamung Schönheit finden? Ferrers Antwort ist ebenso klar wie schön. Klug erschafft die Regisseurin Bilder, die das Mysterium des Lebens spiegeln. Ein grüner Hügel, die zarten Blätter eines Baumes geben Hoffnung. Doch am Ende lauert die Klimakatastrophe. Moras und Ferrers Ansatz, die Spiritualität des Theaters wiederzuentdecken, faszinierte und verstörte das Publikum.