Es ist kein Jahr her, dass der Konzern Evergrande mit Finanzierungstricks den Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen konnte. Der chinesische Immobilienriese erhielt dabei Schützenhilfe vom Staat. Damit sollte das Überleben der in einer Liquiditätskrise steckenden Bau- und Projektentwicklungsgruppe gesichert werden. Doch jetzt ist die gekaufte Zeit abgelaufen: Der Konzern, an der Börse einst „wertvollstes“ Immobilienunternehmen auf dem Globus, steht vor dem Aus. Die Uhr tickt. Die Ansteckungsgefahr wächst, sowohl inner- und außerhalb des Immobilienmarktes als auch inner- und außerhalb der Volksrepublik (der Freitag 41/2021).
Nach Protesten an der Konzernzentrale in der südchinesischen Metropole Shenzhen im September versicherte das Unternehmen zwar, Berichte über einen Bankrott seien „nicht wahr“. Eingeräumt wurden aber „beispiellose Schwierigkeiten“. Mehrere fällige Zahlungen blieb der Konzern schuldig, andere, darunter eine Zinszahlung für eine Yuan-Anleihe, bediente er dann doch. Rund fünf Milliarden Dollar sind fürs Erste erforderlich, um auf Sicht von sechs Monaten über die Runden zu kommen. Ob ein solcher „Befreiungsschlag“ reicht?
Das Symptom: Dem verschachtelten Konglomerat mit Schulden von gut 300 Milliarden Dollar fehlt das Kleingeld, um fällige Zinsen zu zahlen. Der Grund für das Wanken ist aber strukturell und weitaus schwerwiegender: die Immobilienblase in der staatskapitalistischen Volksrepublik, die Schuldendynamik infolge von Deregulierung und Finanzialisierung auch im „kommunistisch“ regierten China. Der Weg zu neuen Krediten ist dem Konzern weitgehend versperrt, weil Evergrande die sogenannten drei roten Linien reißt. Diese Auflagen hatte Peking 2020 eingeführt, um der seit mehr als fünf Jahren wachsenden Überhitzung des Immobilienmarktes gegenzusteuern. Das verschärfte die Krisenanfälligkeit von Evergrande und einigen anderen, kleineren Immobilienentwicklern, die inzwischen auch wanken und ihre Zahlungen nicht mehr pünktlich leisten.
Die Akteure an den Kapitalmärkten hoffen, dass Evergrande ein nationales Problem für China bleibt und es nicht zu Schockwellen in den globalen Finanzmärkten kommt; Assoziationen an die Lehman-Pleite rauben so manchem Beobachter den Schlaf. Tatsächlich geht es um mehr als nur ein Unternehmen. Chinas Immobilienmarkt ist in den vergangenen 20 Jahren enorm gewachsen, getragen von steigenden Einkommen, einer wachsenden Mittelschicht und staatlich niedrig gehaltenen Zinsen. Der US-Ökonom Ken Rogoff geht davon aus, dass Chinas Bruttoinlandsprodukt inzwischen zu fast 30 Prozent vom Häusermarkt abhängt. Doch dort brechen inzwischen die Preise stark ein.
Evergrande ist der zweitgrößte Immobilienentwickler in China, man baut Apartments, Bürotürme und Einkaufszentren. Über das ganze Land verteilt betreibt und entwickelt das Unternehmen 1.300 Projekte in 280 Städten. Der Privatkonzern, 1996 von Xu Jiayin gegründet und seit 2009 in Hongkong börsennotiert, hat 200.000 Beschäftigte und heuert für Projekte Millionen von Bauarbeitern an. Wie bei vielen chinesischen Großkonzernen sind die Beteiligungen Evergrandes an mehr als 200 Tochterunternehmen verschachtelt, die Gruppe investiert auch in E-Autos, Versicherungen, Gesundheit oder Fußball. Die Kredite und gegenseitigen finanziellen Verpflichtungen sind kaum durchschaubar. Und: Außerhalb der Bilanz dürften zusätzlich hohe Schulden liegen.
Aufgrund der Finanzprobleme sollen Hunderte Projekte derzeit brachliegen, 800 seien noch nicht fertiggestellt. Rund 1,2 Millionen Käufer, die im Voraus bezahlt haben, warten nach Schätzungen auf die Schlüsselübergabe: Die Finanzierung erinnert an ein Schneeballsystem, das bei einem Zusammenbruch auch Wirtschaftsbereiche außerhalb des Immobiliensektors erfassen könnte: Wenn Chinas Mittelschicht unter Druck gerät, weil ihre Wohnungen an Wert verlieren, wird sie etwa beim Autokauf auf die Bremse steigen, was dann auch deutsche Autohersteller wie VW, Daimler und BMW treffen würde, die am Tropf des chinesischen Marktes hängen.
Die alles entscheidende Frage ist, ob die staatlichen Finanzwächter Evergrande mit Staatsgeldern auffangen, um Ansteckungsgefahren und so eine Vertrauenskrise zu vermeiden. Für Anleger im chinesischen Anleihemarkt ist Evergrande eine große Nummer. Der Konzern zählt zu den wichtigsten Unternehmen in Asien, die verzinsliche Wertpapiere ausgeben. Laut der Agentur Bloomberg hat die Schweizer Großbank UBS 300 Millionen Dollar und der US-Vermögensverwalter Blackrock 400 Millionen Dollar im Feuer.
Ist Evergrande also „too big to fail“? Die chinesische Regierung scheint zwar nicht zu einer Rettung bereit, soll aber auf ein kontrolliertes Umschuldungsverfahren hinarbeiten, das Ansteckungsgefahren verhindert. Peking könnte dafür sorgen, dass Bauprojekte mit vorverkauften Wohnungen getrennt und weitergeführt werden. Der Staat werde aber kaum für den Schuldendienst aufkommen, wird vermutet.
Dies läge im Rahmen dessen, wie die Führung der Kommunistischen Partei seit geraumer Zeit mit den im Turbostaatskapitalismus entfesselten Privatunternehmen vorgeht. Bisher hat sie vor allem Technologieunternehmen wie Alibaba, Alipay oder Tencent an die Kandare genommen. Ein staatlich orchestriertes, geordnetes Scheitern von Evergrande hätte einen starken Disziplinierungseffekt für Wettbewerber und würde eindringlich deutlich machen, dass die Regierung für private Gesellschaften auch dann, wenn diese sehr groß sind, nicht die letzte Rettung ist. Und: Dem aus dem Ruder gelaufenen Immobilienmarkt würde damit etwas an spekulativem Boden entzogen.
Anders als bei Lehman 2008 in den USA sind nahezu alle Unternehmen, die im Fall einer Evergrande-Pleite Geld verlieren, vom Staat direkt oder indirekt abhängig. Ausländische Anleger dürften insofern bei einem Schuldenschnitt die größten Verluste hinnehmen müssen, schätzt der Ökonom Dirk Bezemer.
Für das von vielen als Hegemon einer künftigen Weltordnung gehandelte China ist der Immobilienmarkt trotz aller aktuellen Probleme aber nur von eher nachrangiger Bedeutung. Denn neben den wachsenden politischen Auseinandersetzungen mit den USA ist es vor allem der Klimawandel und dessen dramatische Folgen samt einer Umstellung auf eine andere Energiepolitik, der die Agenda der Kommunistischen Partei dominiert.
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