Von Jonas Labrenz
Heidelberg. Das Sexualstrafrecht gehört zu den am meisten diskutierten Bereichen des Strafrechts. Erst 2016 wurden hier zuletzt Änderungen – Stichwort: Nein heißt Nein – beschlossen. Warum die neue Formulierung im Tatbestand der sexuellen Nötigung verunglückt sei, wie dynamisch sich das Sexualstrafrecht entwickele und warum der Wunsch, mehr Handlungen als strafbar einzuordnen, ein Rückschritt sein könne, erklärte der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer bei der Online-Veranstaltung "Lust und Strafe? Wie Sexualität und Strafrecht zusammenhängen" des Deutsch-Amerikanischen Instituts am Sonntag. Rund 100 Zuschauer hörten dem ehemaligen Vorsitzenden des Zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs zu – einige stellten Fragen.
Was macht die Diskussion um das Sexualstrafrecht so schwierig? "Es ist ein Bereich, der jeden angeht und in dem jede Person auch Fachperson ist – zumindest im eigenen Empfinden", so Fischer. Und: "Moral und Sexualität hängen sehr eng zusammen." Gesetz und Moral seien immer aufeinander bezogen – "es gibt kein Recht ohne Moral", aber wer alle Moral in Recht verwandeln wolle, "der hat darüber noch nicht richtig nachgedacht", so Fischer. Gefängnisstrafen von drei Monaten bis fünf Jahren für eine Lüge wären unsinnig.
Noch bis in die Siebzigerjahre war das Sexualstrafrecht stark von der damaligen Moral geprägt. Verstöße wurden Sittendelikte genannt, geschützt wurden soziale Institutionen wie die Ehe, Familie und Kindererziehung, der Ehebruch war bis 1969 strafbar, weil der Betrogene als in seiner persönlichen Ehre verletzt galt. "Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass das damals verfolgt wurde", so Fischer. Auch die männliche Homosexualität sei "um der Sittlichkeit willen" bis 1994 verboten gewesen. Heute dagegen würde die sexuelle Selbstbestimmung geschützt – jeder müsse entscheiden können und dürfen, ob, wann, wo, wie und mit wem er sexuelle Kontakte habe. "Es ist ein höchstpersönliches, intimes Rechtsgut."
Seit dieser "weitreichenden Veränderung" komme es also auf den Willen der Person an. "Es gibt nur noch ganz wenige Grenzen", erklärte Fischer. Im Strafrecht ginge es nun darum, wie dieser freie Wille hergestellt, manipuliert, überwunden werden könne. Gewalt, Drohungen – etwa mit Konsequenzen für die Arbeitsstelle – oder Täuschung könnten dabei eine Rolle spielen. Seit der letzten Novellierung macht sich jetzt strafbar, wer "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" handelt. "Eine ganz merkwürdige Regel, die das Gegenteil bewirkt von dem, das versprochen wurde", findet Fischer. Statt das Opfer besser zu schützen, werde vom ihm nun verlangt, seinen Willen für einen objektiven Dritten erkennbar zu machen, etwa Nein zu sagen, sich zu wehren oder wegzudrehen.
Das große Problem sei dabei, dass der Bereich der Sexualität stark von Ambivalenzen geprägt sei. So würden Jugendliche überreden, austesten und nicht fragen, ob das Gegenüber mit einem Zungenkuss einverstanden sei. "So läuft es ja nicht", erklärte Fischer: "Jeder mag sich mal erinnern, wie oft er in seinem Leben in einer Situation war und er nicht sicher war, ob er selbst wollte oder nicht."
Auch nach der letzten Neuregelung wird schon wieder gefordert, weitere Handlungen unter Strafe zu stellen. Zuletzt sei es das "unkeusche, grenzüberschreitende Anschauen" gewesen. "Wir nähern uns mit großen Schritten der Forderung nach einer Sexualrechtskultur, die wir bis vor 20 Jahren noch als extrem verachtenswürdig und rückständig angesehen haben", so Fischer.