Die Ärzteschaft ist wegen der steil steigenden Corona-Infektionszahlen alarmiert und fordert schärfere Beschränkungen. Vor den Bund-Länder-Beratungen macht auch die Wirtschaft Druck, aber von der anderen Seite.
Vor den Bund-Länder-Beratungen am Montag über das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie fordern Mediziner wieder schärfere Beschränkungen. Zugleich warnen sie vor einer Zuspitzung der Lage im Gesundheitswesen. Aus der Wirtschaft kommen derweil Forderungen nach einem Kurswechsel in der Corona-Politik.
Die Chefin des Chefin des Ärzteverbandes Marburger Bund, Susanne Johna, forderte: "Es muss definitiv die vereinbarte Notbremse gezogen werden, da darf es keine Ausnahmen geben." Weiter sagte sie der "Neuen Osnabrücker Zeitung": "Ich rechne ab Ostern mit einer noch kritischeren Lage als zum Jahreswechsel." Der Kapazitätspuffer auf den Intensivstationen "wird rasant wegschmelzen", warnte sie. "Es war unverantwortlich, in die dritte Welle und die Ausbreitung der Mutanten hinein auf diese Art zu lockern. Dadurch droht den Kliniken nun die dritte Extremsituation binnen eines Jahres", sagte Johna.
Auch von Intensivmedizinern kommen nachdrückliche Mahnungen. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz könne ohne Eingreifen sehr schnell auf 200 steigen und zu deutlich höheren Intensivpatientenzahlen führen. "Aus unserer Sicht kann es daher nur eine Rückkehr zum Lockdown vom Februar geben", sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, der "Augsburger Allgemeinen" (Samstag). "Alles, was man sich jetzt erlaubt, muss man später mit Zins und Zinseszins bezahlen", warnte Marx.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich räumte ebenfalls ein: "Bestimmte Schritte müssen eventuell auch wieder zurückgenommen werden." Allerdings sollte man nicht nur auf die Inzidenzwerte schauen, auch andere Kriterien müssten berücksichtigt werden, sagte Mützenich der "Rheinischen Post".
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung", zu dem Stufenplan für Öffnungen gehörten auch Schließungen, wenn es nötig sei. Dreyer will sich am Montag beim Gipfel dafür einsetzen, "regionale Lösungen zu erproben". In Modellkommunen oder Landkreisen mit einer Inzidenz unter 100, die ein lückenloses Test- und Kontakterfassungssystem vorweisen können, sollten Außengastronomie, Kultur und Einzelhandel für Kunden mit einem tagesaktuellen Corona-Test öffnen können.
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) warf in den ARD-"Tagesthemen" die Frage auf, warum Menschen nach Mallorca fliegen dürfen, nicht aber ein Ferienhaus oder eine Ferienwohnung an der deutschen Küste nutzen können. Das führe zu Unmut bei Bürgern und in der Tourismusbranche. Wenn Gastronomie und Hotels dicht bleiben sollen, müsse die Bundesregierung für zusätzliche Wirtschaftshilfen sorgen.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger mahnte eine stärkere Öffnung des Wirtschaftslebens an. Dies sei dringend nötig, "denn wir sind jetzt an einem Wendepunkt, wo vielen Betrieben die Puste ausgeht", sagte der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) der "Welt". "Diese perspektivlose Hinhaltepolitik macht viele Betriebe und Beschäftigte nur noch hilflos und wütend." Der Chef des Müncher Ifo-Instituts, Clemens Fuest, beklagte in der "Augsburger Allgemeinen": "Ein Problem der Debatte und der aktuellen Politik besteht darin, dass nur in den Alternativen Öffnung versus Lockdown gedacht wird." Es fehle seit langer Zeit eine proaktivere Politik im Corona-Management.
Der Bundesgeschäftsführer des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Markus Jerger, schrieb in einem Brief an Kanzlerin Merkel, ganze Branchen wie das Tourismus- und Gastronomiegewerbe oder der Einzelhandel drohten auf Dauer wegzubrechen. "Das gegenwärtige Impfchaos muss schleunigst beendet werden, um weiteren Schaden abzuwenden", meint Jerger.
Bund und Länder hatten sich am Freitag über das weitere Vorgehen beim Impfen verständigt. So sollen die Hausärzte unmittelbar nach Ostern routinemäßig Schutzimpfungen gegen das Coronavirus übernehmen. Die Impfzentren sollten künftig verlässlich 2,25 Millionen Dosen pro Woche bekommen - die darüber hinaus gehende Menge werde an die Arztpraxen gehen. Vereinbart wurden zudem zusätzliche Impfdosen für vier Bundesländer mit Außengrenzen zu Frankreich und Tschechien sowie für das grenznahe Thüringen.
Die Hausärzte sind unzufrieden mit dem Beschluss. "Wir stehen zum Impfen bereit - und wollen keine Resterampe werden", sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. In einem ARD-"Extra" kritisierte er, die Impfzentren würden privilegiert, die Menschen würden sicher aber lieber beim Hausarzt impfen lassen. "Wir haben 5.000 kleine Impfzentren", betonte der Verbandschef. Der Vorsitzende der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, forderte in den Funke-Zeitungen, in den nächsten Monaten sollten bei Hausärzten ausschließlich die über 70-Jährigen geimpft werden.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte ebenfalls betont, man müsse damit rechnen, "dass Dinge zurückgenommen und verschärft werden". Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Ohne Kontaktnachverfolgung und ohne Testen bin ich nicht fürs Öffnen, da bin ich für gar nichts." Thüringen hat bundesweit die höchste Inzidenz.