Von Armin Guzy
Neckarwestheim. Im Block II des Atomkraftwerks Neckarwestheim sollen sich nach Informationen der Anti-Atom-Organisation "Ausgestrahlt" in den vergangenen Monaten neue Risse in den Heizrohren der Dampferzeuger gebildet haben.
An sieben Rohren wurden Risse festgestellt, bestätigte das Umweltministerium am Freitag in Stuttgart. Sie wurden verschlossen und außer Betrieb genommen. Außerdem gab es noch 19 und nicht registrierpflichtige kleinere Löcher an Rohren aller vier Dampferzeuger.
Die Bewertung der Problematik sei noch nicht abgeschlossen. Im Vergleich zu den Vorjahren gab es weniger Beanstandungen. Auch die Tiefe und Länge der Korrosionsschäden sei deutlich geringer als in den Vorjahren. 2018 gab es 191 beanstandete Rohre, 2019 waren es 101 Rohre.
Zwischenergebnisse wolle man nicht kommunizieren, teilte die EnBW auf Anfrage zunächst mit – einerseits, weil die Untersuchungen noch bis Mitte Juli laufen und die Ergebnisse erst noch bewertet werden müssten, andererseits, weil danach auch noch das Landesumweltministerium die Ergebnisse eigenständig bewertet. Die Behörde entscheidet, ob das AKW wieder angefahren wird.
Neckarwestheim II ist das letzte aktive Atomkraftwerk in Baden-Württemberg, liegt etwa zehn Kilometer südlich von Heilbronn und wird mit seinem 31 Jahre alten Druckwasserreaktor voraussichtlich bis Ende 2022 Strom produzieren. Dann läuft die Genehmigung aus. Block I wurde hingegen bereits 2011 stillgelegt und wird seit 2016 zurückgebaut.
Das fordern die Atomkraftgegner seit Jahren auch für den Block II, der aus ihrer Sicht nicht sicher ist. In einer nächtlichen Aktion haben sie nun einen großen Riss auf die Kuppel des AKWs projiziert, um erneut auf die Gefahr für die Bevölkerung aufmerksam zu machen. Die bundesweit vernetzte Organisation spricht im Zusammenhang mit den defekten Rohren von "Flickschusterei": "Das AKW hätte bereits 2018 nicht mehr ans Netz gedurft", teilten Franz Wagner vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar, Sylvia Pilarsky-Grosch vom BUND Baden-Württemberg und Armin Simon von der Anti-Atom-Organisation "Ausgestrahlt" in einer gemeinsamen Stellungnahme nach der Aktion mit.
Vor zwei Jahren waren bei einer Revision die ersten Schäden an den Rohren der Dampferzeuger bekanntgeworden. 2019 wurden dann an weiteren 191 der 16.400 Rohre "sicherheitstechnisch relevante rissartige Wanddickenschwächungen" festgestellt, wie das Umweltministerium damals mitteilte. Nun sollen laut Informationen der Atomkraftgegner erneut Risse entdeckt worden sein, was von ENBW und Ministerium weder bestätigt noch verneint wurde.
Die Anti-Atom-Initiative sieht in den von ihr behaupteten Riss-Funden einen erneuten Beleg dafür, "dass das AKW Neckarwestheim II so nicht sicher betrieben werden kann". Die Dampferzeuger seien irreparabel vorgeschädigt, das Riss-Wachstum sei nicht mehr zu stoppen. Die Initiative verweist in ihrer Stellungnahme darauf, dass die Reaktorsicherheitskommission erst vor wenigen Monaten ausdrücklich gewarnt hat, dass solche Risse sehr schnell wachsen können. Reiße auch nur ein einziges der Heizrohre ab, sei das bereits ein komplizierter Kühlmittelverlust-Störfall, der sich bei weiteren Schäden bis zum Größten anzunehmenden Unfall (GAU) entwickeln könne, behaupten die Aktivisten. Das AKW laufe "seit Jahren illegal im Störungsmodus".
Der Betreiber und das Umweltministerium bezeichnen das AKW hingegen als sicher: "Undichtigkeiten in den Heizrohren gibt es nicht, und es hat sie auch in den vergangenen Jahren nicht gegeben" teilte die EnBW mit. Der laufende Betrieb werde mit sensiblen Instrumenten überwacht, daher sei bereits vor der Revision klar gewesen, "dass alle Heizrohre der vier Dampferzeuger dicht sind".
"Ausgestrahlt" fordert nun ein schnelles Handeln von Politik und Atomaufsicht und verweist darauf, dass die vorgeschädigten Dampferzeuger bislang nicht ausgetauscht worden seien: "Ein AKW in einem derart gestörten Zustand weiter zu betreiben, widerspricht nicht nur dem deutschen Kerntechnischen Regelwerk, sondern missachtet auch international geltende Sicherheitsstandards."