Gleich zwei Mal ist die 1986 geborene und in Zürich aufgewachsene Ivna Žic für den Buchpreis nominiert, in Österreich und der Schweiz, und es ist ein Zufall, dass ihre exakt 20 Jahre ältere Schweizer Kollegin Ilma Rakusa dieses Jahr den Kleist-Preis erhält. Oder doch nicht? Denn wovon beide Autorinnen erzählen, Rakusa lyrisch und in Prosa zuletzt in Mein Alphabet (Droschl), Žic bisher vor allem auf dem Theater, hat eine gemeinsame Wurzel. Sie wurden als Kinder aus ihrer Heimat auf dem Balkan gerissen, weg vom geliebten Meer, weil die Eltern zu unterschiedlichen Zeiten in die Schweiz auswanderten und ihnen einen Sprachspagat aufzwangen, der in beiden Fällen eine produktive literarische Entwicklung freisetzte. „Unser Nullpunkt“, schreibt Žic, „von dort wächst alles aus zwei Richtungen heraus.“
Die Nachkommende titelt das schmale, aber literarisch ungemein konzentrierte Bändchen der in Zürich, Wien und Berlin beschäftigten Dramatikerin, in deren Mittelpunkt eine junge namenlose Frau um die 30 steht, die, gerade aus Paris von ihrem verheirateten Geliebten kommend, im Zug nach Zagreb sitzt, um wie jedes Jahr ihre Verwandtschaft zu besuchen. Ziel ist eigentlich die „Großmutterinsel“, der Wohnort der noch verbliebenen Großmutter, wo sie jeden Sommer verbringt, doch so weit kommt sie nicht. Im Zug überfallen sie die Ahnen, insbesondere der verstorbene Großvater, ein Maler, der aber aus ihr unbekannten Gründen aufgehört hat zu malen und nur das geheimnisvolle Bild einer Frau in Türkis hinterlassen hat. Begleitet wird sie aber auch von dem Mann, mit dem sie keine Zukunft hat: Aufhören ist das Thema – und Weitergehen, trotz allem, was die persönlichen und historisch-politischen Wirren den Menschen abfordern.
„Ihr seid immer da, ich reise nie allein“, denn all die Seufzer – „geh, wenn’s sein muss“ und „komm doch bald“ – amalgamieren sich zu dem schlechten „Ge-wiss-en, das beißt.“ Die Erzählerin bleibt in Zagreb hängen, wo sich die alten Gerüche wieder einnisten, das „slanac“ im Mund zerfällt, gesalzenes Weißbrot, und wo ihr Bild von der Stadt aufersteht. Es sind fragmentierte Erinnerungen, etwa die an das Monument des reitenden Ban Jelačić, das zwischen 1947 und 1990, als der Platz der Republik geweiht war, verbannt blieb und danach wieder auftauchte: „Zagreb ist das Ban-Jelačić-Pferd. Auf zum Galopp, es scheint immer schon sehr ungeduldig zu sein.“
In der Großelternzeit, als „Deda“ den Kindern unzählige Märchen erzählte, gab es kein Warum, weil jedes Warum die Erwachsenen verunsicherte. Dass die Sprache Risiken birgt, hat sich nicht verändert. „Kommen Sie von hier?“, wird die junge Frau gefragt, als diese um ein slanac bittet und ihre Küchensprache, Familiensprache, lediglich „aufbewahrte Sprache“ wieder einüben muss. „Diese Sprache und ich müssen die Schrittlänge wieder finden, sind einen in graue Platten aufgeteilten Küchenboden gewohnt, auf dem wir Kinderhüpfspiele gespielt haben.“ Aber auch die Sprache mit dem Geliebten ist vermint, „unsere Sprache war in Zonen aufgeteilt, Sicherheitszonen, Gefahrenzonen, in stockende, in fließende, in schweigende Zonen“.
Lyrisch und dramatisch durchsetzt, voller kunstvoller Satzschleifen zeichnet Žic ein Bild der Zerrissenheit: „In den Wänden Narben, ein gespanntes Netz über der Stadt voller Umbrüche.“ Was zählt? Vielleicht der Großvater, „sprachgewandter Magier und sprachloser Weiterlebender“, der sein Geheimnis mit ins Grab genommen, doch das Erzähltalent weitergegeben hat. „Vielleicht machen all diese Vorangegangenen und all diese Nachkommenden uns in diesem Grenzraum Stehenden zu Kurzstreckenläufern. Zu Grashüpfern.“ Literarisch reicht dieser Sprung aber ziemlich weit.
Die Nachkommende Ivna Žic Matthes und Seitz 2019, 164 S., 20 €
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