Von Harald Raab
Weimar. Der Philosoph Prof. Dr. Helmut Heit leitet das Nietzsche-Kolleg in der Klassik-Stiftung Weimar und ist Mitherausgeber der internationalen Zeitschrift „Nietzsche-Studien“. Der Wissenschaftler, der auch in Brasilien und China gelehrt hat, empfiehlt Nietzsche als Vordenker zum Erkennen existenzieller Grundprobleme unserer unsicheren Zeit.
Welche Rolle kommt der Philosophie in der Gesellschaft heute zu? Friedrich Nietzsche rechnet die Philosophie ja nicht zu den Wissenschaften, sondern zu den Künsten.
Philosophie ist die Wissenschaft vom Allgemeinen. Sie ist an argumentative Standards gebunden. Dem würde auch Nietzsche zustimmen. Insbesondere ist Philosophie diejenige Ressource, die Art zu denken und zu fragen, an die wir uns wenden, wenn wir an Probleme geraten, die nicht direkt einer wissenschaftlichen Lösung zugänglich sind. Man darf aber von einer Philosophie, die nicht mehr mit einem Absolutheitsanspruch auftritt, nicht erwarten, dass sie uns direkte Handlungsanweisungen gibt. Sie kann aber dabei helfen, sich der Voraussetzungen und Grundlagen unserer Orientierungsversuche bewusst zu werden. Sie kann beitragen, besonnene Entscheidung zu fällen.
Zum 175. Geburtstag Nietzsches in diesem Jahr hatte man den Eindruck, es war ein kultureller Pflichttermin. Hat uns Nietzsche heute noch etwas zu sagen?
In diesem Jahr wurde sein Geburtstag nicht groß gewürdigt. Das war zum 100. Todestag im Jahr 2000 anders. Trotzdem: Nietzsche gehört zu denjenigen Denkern, die auch außerhalb der akademischen Philosophie immer noch viele Leser und Leserinnen finden. Nietzsche ist ein Autor, der im besonderen Maß jüngere Menschen anspricht, die sich in der Phase der Ablösung von der Autorität ihrer Eltern und Lehrer befinden.
Nietzsches Sprache ist klar und eindringlich. Spielt diese literarische Fähigkeit eine Rolle, dass er so eine Beachtung findet?
Auf jeden Fall. Nietzsche ist ein sehr zugänglicher Philosoph. Er bedient sich einer bildhaften Sprache, erzählt Anekdoten, arbeitet mit Dialogen. Er bietet eine Reihe geistreicher Aphorismen. Da kommt vieles an Ausdrucksmitteln zusammen, was die Lektüre spannend und immer wieder inspirierend macht.
Viele seiner Zeitgenossen fühlten sich durch Nietzsches Publikationen provoziert. Ist das heute noch der Fall?
Nietzsche provoziert heute noch. Er stellt ja traditionelle Werte infrage. Für viele Fachkollegen ist Nietzsche ein Vordenker des Relativismus’.
Finden wir bei ihm Antworten, die gültig sind für Fragen unserer Zeit?
Nietzsche gehört zu den ersten und auch nachdrücklichsten Beobachtern dessen, was man als Wahrheits- und Gewissheitsverlust bezeichnen kann. Wir sind uns unserer Wahrheiten nicht länger gewiss. Orientierungsmarkierungen sind unklar geworden. Nietzsche beschreibt dieses Phänomen rigoros. Dadurch hat sein Denken den Charakter einer radikalen Kritik. Er fordert uns zu einem schonungslosen Blick auf die Situation auf, in der wir uns befinden.
Wo bleibt aber die Orientierungshilfe? Er lässt mit seinem wenig tröstlichen Befund die Menschen allein.
Der kritische, der destruktive Teil der Philosophie Nietzsches erzeugt vor allem heute die größere Resonanz. Es gibt bei ihm eine ganze Reihe von Antwortversuchen. Am Anfang ist er stark von Wagner und Schopenhauer beeinflusst. Da setzt er sehr auf Kunst. Er glaubt, dass Kunst als schöpferische Kraft des Menschen kreative, ästhetisch ansprechende Lösungen formulieren kann. Danach versucht er andere Wege. Hier taucht der Übermensch auf, ein Gedanke, der speziell in Mitteleuropa diskreditiert ist. Nach Nietzsche liegt unsere zentrale Orientierungsgröße nicht mehr in einem Jenseits, sei es in der platonischen Ideenwelt oder bei einem christlichen Gott. Deshalb müssen wir zu einem Ideal kommen, indem der Mensch über sich selbst hinaus wächst. Dafür ist der Übermensch die Metapher.
Er fordert für den Übermenschen aber auch Herrschaftsanspruch.
Er hat die klare Vorstellung, dass nicht alle Menschen gleich sind, dass es eine Rangordnung geben muss. Für herausragende Menschen gelten andere Regeln als für den Durchschnitt. Er hat eine platonische Vorstellung von Gerechtigkeit. Sie zielt nicht darauf ab, dass alle gleich behandelt werden sollen. Damit die Menschen ihr jeweiligen Potentiale entfalten können, müssen sie unterschiedlich behandelt und gefördert werden.
Wie lässt sich dabei demokratische Chancengleichheit realisieren?
Nietzsche hat Demokratie unserer Prägung nicht gekannt. Sie war für ihn Herrschaft der Massen, der Willkür von Demagogen ausgesetzt. Wir leben heute aber in einer Welt, in der der Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung flächendeckend ist. Dazu braucht es Chancengleichheit. Das konnte Nietzsche so nicht vor Augen haben. Er ging davon aus, dass nur eine kleine Elite dafür in Frage komme. Für ihn sind es die exzeptionellen Figuren, die die Kultur voranbringen. Was für uns heute noch gültig ist und das ist genuin nietzscheanisch: Seine Vorstellung, dass wir einen Wettstreit brauchen, auch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Ideen oder Lebensentwürfen. Das kann aber nur innerhalb anerkannter Regeln geschehen. Die sehe ich in einem demokratischen Rechtsstaat gegeben.
Wie kam es, dass Nietzsche vom Faschismus vereinnahmt werden konnte?
Dabei spielt sein propagierter Heroismus eine gewisse Rolle. Auch die Vorstellung, sich jenseits der etablierten Muster zu inszenieren, kommt hinzu. Und nicht zuletzt eine falsche Interpretation der Gedanken vom Übermenschen. Es gibt Thesen, die Nietzsche für den Faschismus anfällig machen. Aber er verachtete jeden Nationalismus ebenso wie die Ideale einer homogenen Volksmasse. Daher war auch die Haltung der Nationalsozialisten zu ihm durchaus ambivalent.
Nietzsche hat sich selbst als den größten Nihilisten bezeichnet. Was ist also positiv an seinem philosophischen Gedankengebäude?
Nihilismus ist bei ihm in erster Linie eine Diagnose, die er seiner Zeit stellt. Die Entwertung der obersten Werte – das bedeutet für ihn ja Nihilismus – ist etwas, was sich vor seinen Augen ereignet. Er ist insofern Nihilist, als er die gegebene Situation ernst nimmt, anerkennt und sich ihr aussetzt. Wie kommt man zu einer Bejahung seines Schicksals? Vor dem Hintergrund, dass wir nicht wissen, was gut und was böse ist.
Nietzsche und Wagner waren ja eine Zeit befreundet. Wagner war Nationalist und Antisemit. Wie steht es mit Nietzsche?
Das kann man für Nietzsche eindeutig mit einem Nein beantworten. Er konnte mit dem Nationalismus nach 1870/71 nichts anfangen. Er setzt darauf, dass der Nationalismus als Kinderkrankheit überwunden werden wird. Nationalismus ist ihm Instinkt der Herde. Rassist war er schon gar nicht. Auf den Zufall der Geburt stolz zu sein, zeige nichts anderes, als dass man ein armer Tropf ist, der nichts anderes hat, auf das er stolz sein kann.
Können sich die Europäer auf ihn berufen?
Er versteht sich als guter Europäer. Er hat die Hoffnung, dass es zu einer gewissen europäischen Einheit kommen kann.