Von Jens Schmitz, RNZ Stuttgart
Stuttgart. Beim ersten defekten Aufzug wird‘s ernst. „Mamma mia!“, ruft der 35-jährige Paketbote theatralisch und beginnt flott den Aufstieg zum vierten Stock. Sein angegrauter Kollege, gelb-rote Jacke, Sicherheitsschuhe, hält entschlossen Schritt. „Des hättsch mit‘em Kretschmann net mache könne“, feixt er und lacht. „Und mit der Eisenmann au net!“
Andreas Stoch, 50, spielt Fußball, Handball und Tennis; für Basketball hat er sogar den Trainerschein. Hauptberuflich aber ist der Heidenheimer Chef der SPD-Landtagsfraktion, seit einem Jahr ist er auch Parteivorsitzender im Südwesten. Bei der Landtagswahl 2021 wird er aller Voraussicht nach gegen Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann antreten. Doch aktuell putzt er Klinken in anderer Mission. „Ja, guten Morgen, Deutsche Post, DHL“. Einen halben Tag lang begleitet Stoch einen DHL-Zusteller durch den Arbeiterbezirk von Bad Cannstatt; er wird hier kein einziges Mal erkannt.
Die Reihe „Stoch packt’s an“ soll das ändern: Seit Monaten ist der 50-Jährige als Schnupperpraktikant in verschiedensten Berufen unterwegs: als Bäcker, Ranger und Schornsteinfeger, als Gärtner, Bademeister und Altenpfleger, als Bodenseefischer, Maler und Rettungsassistent.
Stoch ist eigentlich Jurist mit einem Faible für Schwarz- und Grautöne; im schmal geschnittenen Anzug unter der randlosen Brille kann er distanziert-technokratisch wirken. Schnelle Auffassungsgabe, scharfe Zunge und eine etwas juvenile Neigung zu Spötteleien sind nicht jedem im Landtag geheuer. Doch der verheiratete Familienvater, vier Kinder, Protestant, ist nicht nur in seiner Region verwurzelt, sondern auch in verschiedenen Milieus. Der Vater war Automateneinrichter, die Mutter Einzelhandelskauffrau; der Sohn findet nicht, dass er mit seinen Vorlieben für Folk-Punk und Paella in irgendwelche Schubladen passt.
„Ciao, frohes Schaffen!“ Der lockere Dialog mit Paketempfängern kommt ihm genauso leicht über die Lippen wie das Kollegen-Du mit dem italienischen Fahrer Davide Adragna. „Es isch halt net egal, wer da bei dir vor der Tür steht“, bewundert er dessen soziale Fähigkeiten im Kundenkontakt.
Wenn es um ihn selbst geht, kann Stoch auch umständlich werden. Er sagt dann, dass „die Person Stoch als möglicher Spitzenkandidat der SPD“ abseits des Rednerpults Profil erhalten soll. Es sei „natürlich klar, dass in meiner Doppelfunktion da eine Erwartungshaltung in meine Richtung besteht, deswegen weiß ich auch, dass diese Aufgabe auf mich zukommen könnte, und vor der laufe ich nicht weg“.
Entscheidungsfreude gilt nicht als Stochs größte Stärke. Vor allem aber nimmt er Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner notorisch sensiblen Partei. Bislang funktioniert das ganz gut. In der ersten, grün-roten Regierung Kretschmann war Stoch Parlamentarischer Geschäftsführer und Obmann im Untersuchungsausschuss zum Stuttgart-21-Polizeieinsatz. Dann folgte er auf die glücklose Gabriele Warminski-Leitheußer als Kultusminister. Bei der Landtagswahl 2016 flog die SPD mit 12,7 Prozent aus der Regierung. Stoch übernahm den Vorsitz der stark geschrumpften Fraktion und sprang erneut in die Bresche: Als sich die Lager der erst seit zwei Jahren amtierenden Landeschefin Leni Breymaier und ihres Konkurrenten aus dem Bundestag, Lars Castellucci, nach einem Mitgliederentscheid unversöhnlich gegenüberstanden, bot Stoch sich als Retter an. Am Sonntag ist das genau ein Jahr her. Neuer Generalsekretär wurde Fraktionskollege Sascha Binder.
Das Duo hat bislang keine schlechte Bilanz: Der innerparteiliche Streit scheint befriedet; mit dem Werben für gebührenfreie Kitas oder eine Landeswohnbaugesellschaft hat die Partei wieder öffentlich wirksame Themen gefunden.
Messbar ist der Erfolg aber noch nicht. Acht Prozent ergab eine Umfrage im September, aktuell sind es elf. Stoch schreibt die dümpelnden Werte auch dem ramponierten Ansehen der Koalition in Berlin zu, auch wenn das teilweise unverdient sei: Die SPD habe viel erreicht, nicht zuletzt das Paketbotenschutzgesetz, das im Dezember in Kraft treten soll: „Wir sollten gucken, dass die Paketboten gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne kriegen“, erklärt er bei DHL. Bei anderen Unternehmen grenzten die Arbeitsbedingungen nämlich an Sklaverei.
Der grün-schwarzen Landesregierung wirft Stoch vor, die Menschen nicht auf die Transformation der Arbeitswelt vorzubereiten. Als viertstärkste Fraktion sei es sehr schwer, Konzepte bekannt zu machen: „Diese Oppositionsrolle ist etwas, das man möglichst schnell beenden muss“, ist der Fraktionschef überzeugt.