Von Berthold Jürriens
Waibstadt. "Das ,Wehret den Anfängen‘, das ,Nie wieder‘ ist längst zur Phrase geworden bei all den Gedenkveranstaltungen, die nur noch starres Staatsritual sind und nichts, aber auch gar nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun haben." Es sind solche Zitate von Richard Chaim Schneider, Publizist und Buchautor, nach dem Anschlag in Halle, die der evangelische Pfarrer Jonas Rühle in seiner Rede verwendet und die die zahlreichen Gäste an diesem Sonntagmorgen auf dem Waibstadter Marktplatz aufhorchen lassen.
Denn sie alle, unter ihnen auch Bürgermeister Joachim Locher und Landtagsabgeordneter Hermino Katzenstein, sind auf so einer Gedenkveranstaltung. Es geht um den Jahrestag der Deportation jüdischer Mitbürger am 22. und 23. Oktober 1940 nach Gurs und die Redner sprechen genau diese Worte, diese von Schneider benannten "Phrasen" wie "erinnern und mahnen", "nicht wegzuschauen", "die Grundwerte verteidigen" oder "gegen die gefährliche Verharmlosung von Antisemitismus und Intoleranz vorzugehen".
Rühle sagt, "wir leben in stürmischen Zeiten", bringt weitere Zitate aus dem "Zeit-Kommentar", die von typischer "deutscher Betroffenheit" und "Alltagsrassismus" erzählen. Doch Rühle hat auch eine Antwort für die Anwesenden parat, warum ein Erinnern wichtig ist. Denn mit solchen Gedenkveranstaltungen zeige man eine Form des friedlichen Widerstandes. "Wir dürfen uns nicht niederringen lassen von Diskriminierung und Antisemitismus." Aber, und das sagt er mit Nachdruck: "Es muss lauter werden" auf dem Weg des Friedens.
Katzenstein hatte zuvor die Wichtigkeit solcher Veranstaltungen betont, das habe Halle gezeigt. Man möge sich mal vorstellen, dass man in einer abgeschlossenen Kirche, zum Beispiel in Waibstadt, unter größten Sicherheitsvorkehrungen seine Religion ausüben müsse. "Ein unerträglicher Gedanke." Nur wer sich seiner Vergangenheit bewusst sei, der könne auch die Zukunft gestalten, so Katzensteins mahnende Worte. Respekt und Anerkennung bescheinigte er den Schülerinnen und Schülern der Projektgruppe der Realschule Waibstadt "Judentum im Kraichgau" und ihrer Leiterin Marion Guttman für ihr Engagement. Guttman hatte in ihrer Begrüßungsrede die politische Geringschätzung und Diskreditierung von Seiten der AfD für diese wichtige Erinnerungskultur kritisiert. Sie erinnerte an 2017, als die Partei die Fördergelder für die NS-Gedenkstätte Gurs komplett entziehen wollte. Gemeinsam mit dem Verein "Jüdisches Kulturerbe im Kraichgau" hatte die Projektgruppe eingeladen, um an die über 6500 jüdischen Bürger aus Baden, der Pfalz und des Saarlands zu erinnern, die der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion zum Opfer gefallen waren. Ausgerechnet am letzten Tag des jüdischen Laubhüttenfestes hatte damals das Grauen für die jüdische Bevölkerung begonnen.
Die vier Schülerinnen und Schüler berichteten von den unmenschlichen Zuständen im Internierungslager Gurs am Fuße der südfranzösischen Pyrenäen, aus dem nur wenigen Inhaftierten die Flucht gelang. Viele starben dagegen an Hunger und Krankheit. Die Verbliebenen wurden ab August 1942 in die Gaskammern von Auschwitz und Lublin-Majdanek transportiert. Die Waibstadter Bürgerinnen und Bürger Klara Glück, Bertha Glück, Paula Glück, Aron Kahn, Elsa Kahn und Hilda Kahn, wurden ebenfalls Opfer dieser unmenschlichen Aktion.
Zum Abschluss der Gedenkfeier trug Stadträtin Martina Sigmann "Gott voller Erbarmen" vor, ein jüdisches Gebet, das während Bestattungen, beim Besuch der Gräber von Angehörigen sowie am "Holocaust-Gedenktag" in unterschiedlichen Fassungen gesprochen wird. Kerzen für die Opfer aus Waibstadt wurden entzündet und auf dem Mahnmal platziert. Feierlich umrahmte die Klezmer-Band "Tacheles" mit ihren Musikern die rund einstündige Veranstaltung, die auch dieses Mal großen Zuspruch erhielt.