Von Tim Kegel
Angelbachtal. Wie groß die Welt doch ist: Ein versehentlich aufgelassenes Fenster in Kappadokien/Türkei und ein blöder Dreher im Frankfurter Postverteilzentrum sorgten in den vergangenen Wochen für Haareraufen im Heckerdorf. Unklar war nämlich, wie England reagieren würde; wie die Türkei. Und ob sein Brief überhaupt jemals dort landet. Und noch wichtiger: dessen Inhalt.
Doch der Reihe nach. Die Gattin von Ekrem Kizilbagli war von einem Kurztrip in die Türkei zurückgekehrt, wo das Paar eine kleine Wohnung besitzt. Da rief auch schon der Nachbar an: "Eure Fenster stehen weit auf", habe er gesagt, "gibt’s irgendwo einen Schlüssel?"
Ja, den gab’s. Dummerweise aber in Angelbachtal, wo Ekrem Kizilbagli und Familie seit 1980 leben. "Frau, warum denkst Du nicht mit?", habe sich der selbstständige Autohändler zuerst geärgert, "man lässt doch einen Schlüssel zurück - falls mal was passiert." Doch es half ja eh nichts. Es war nicht so. Und irgendwie hätt’s ihm selber ja auch passieren können.
Die Probleme wurden aber nicht kleiner: Was, wenn es regnet; wenn es windig ist? Was, wenn irgendwelche Schurken die offenen Fenster erspähen und einsteigen? Was, wenn Mobiliar, Teppichboden oder Tapeten Schaden nehmen? Was, wenn alles das zusammen passiert?
Nun gut, heutzutage sind 2500 Kilometer ja keine Entfernung. Wozu gibt’s denn Luftpost? Also hat Ekrem Kizilbagli den Schlüssel eingetütet und verschickt. "Einschreiben international", Ziel Nevsehir, Kappadokien, Türkei. Es war der 6. November im Sinsheimer Hauptpostamt. "Extra groß, damit nichts passiert" hat der 56-Jährige "Turkiye" auf den Umschlag geschrieben.
Und die Tage zogen ins Land. "Da ist nichts", meldete sich der Nachbar, "bist Du Dir sicher? Stimmt die Adresse?" Auch in der Türkei kosten Schlüsseldienste deutlich mehr als ein noch so aufwendiger Brief. Skeptisch geworden, hat Ekrem Kizilbagli dann nachgeforscht, zusammen mit seiner Tochter, die studiert hat und im Internet fit ist.
"England", sagt Ekrem Kizilbagli ratlos, "es ist England". Im Internet die Sendungsnummer eingegeben, habe das Programm ihm einen Ort irgendwo in Yorkshire ausgespuckt. In Südengland anstelle von Zentralanatolien weilten die Zimmerschlüssel gerade - "das versteh’ ich nicht."
Selbe Reaktion im Sinsheimer Postamt, von wo aus die Sendung ins Verteilzentrum Frankfurt am Main gegangen wäre: "Da hat", sagten die Mitarbeiter zu Ekrem Kizilbagli "wohl jemand einen Fehler gemacht." Möglicherweise werde der Lapsus in England entdeckt. In diesem Fall gehe der Brief dann entweder zurück zur Kraichgauer Meldeadresse oder gleich in die Türkei. Eine Garantie dafür gebe es jedoch nicht - wie denn auch? Mehr als sich entschuldigen und abwarten könne man nicht.
Zwischenzeitlich schien der Brief mit dem Schlüssel verschollen. "Sendungsnummer kann nicht zugeordnet werden" hieß es bei einer erneuten Abfrage, später tauchte dann wieder der Ort in Yorkshire auf. "Früher gab’s das nicht", sagt der 56-Jährige. "Früher", ist er überzeugt, hätten "drei Leute dort gearbeitet, wo heute einer sitzt." Dadurch käme das Personal durcheinander, verwechsle dann im Stress auch mal Türkei und England. Die Unklarheit dauerte an. "Soll ich jetzt zum Anwalt gehen?" Das fragte sich Ekrem Kizilbagli nicht ganz unbegründet, bringt doch ein verschollenes Päckchen mit Inhalt Hausschlüssel immer ein ungutes Gefühlt mit sich. "Was damit alles passieren kann", grübelte er, "ich will’s mir garnicht vorstellen."
Doch es passierte eben - nichts: Ja, man räume den Fehler ein, aber: "Ohne Nachforschungsauftrag", sagte die Post, könne man "nichts weiter tun." Und diesen habe er schriftlich zu stellen, am Telefon gehe das nicht. "Ist doch nicht mein Fehler", sagt Kizilbagli, "es gibt doch eine Sendungsnummer, eine Versicherung."
Wenn man nicht alles selber macht: Ganz Mann der Tat, wurde also ein Flug in die Türkei gebucht; dort dann ein Mietwagen reserviert. Insgesamt etwa 200 Euro war Ekrem Kizilbagli dessen eigener Nachforschungsauftrag wert. Am Abreisetag dann - der Anruf: "Du glaubst es nicht", sagte der Nachbar, "der Schlüssel, er ist da." Geflogen ist Ekrem Kizilbagli aber nicht, den Flug storniert hat er auch nicht. Er nimmt’s mit Humor: "Wer weiß, wie das dann wieder ausgegangen wäre."