Von Harald Berlinghof
Hockenheim. Die Rennstadt Hockenheim war nicht immer eine Stadt des Motorsports. Einst war sie eine Kommune des Tabaks und der Zigarren. Man kann sie aber auch als eine Stadt des Jugendstils bezeichnen. Und obendrein war sie einst sogar ein Wallfahrtsort: Im heutigen Altenheim steht eine aus Lindenholz geschnitzte Madonna aus der Zeit um 1500 aus der sogenannten "Ulmer Schule" - und ist haarscharf an einer Zuschreibung an Tilman Riemenschneider (Anm. d. Red.: deutscher Bildschnitzer um 1500) vorbeigeschrammt. Im 19. Jahrhundert war die knapp einen Meter große Figur tatsächlich eine Wallfahrtsmadonna. "Das ist ein Hockenheimer Kleinod, das nur wenige kennen", sagte dazu der Ehrenvorsitzende des Hockenheimer Heimatvereins und Alt-Stadtrat Alfred Rupp.
Ausgangspunkt der historischen Führung durch den Heimatkundler Rupp, der sich mit ungewohntem Vollbart präsentierte, war der Marktplatz. Die evangelische Kirche schied als Besichtigungsobjekt aus, weil sie gerade saniert wird. Trotz ihres historistischen Äußeren sei sie im Innern eine Jugendstilkirche, so Rupp. Sie wurde 1907 errichtet. Und auch die Pestalozzi-Schule atmet Jugendstil.
Doch das Zentrum des Jugendstils in Hockenheim ist die katholische Kirche Sankt Georg. Und nicht nur die Prunkfassade zur Hauptstraße ist sehenswert. Ein schöner Rücken kann auch entzücken - so wie die Hinteransicht der Jugendstilkirche. "Dort wo sie jetzt stehen, war früher, im 19. Jahrhundert, ein Friedhof", erzählte Rupp den Teilnehmern. Und eine von zwei Überraschungen, die er angekündigt hatte, kam dann im Innern der katholischen Kirche zutage: Das Gemälde über dem Josefsaltar zeigt rechts unten im Vordergrund einen kleinen Hockenheimer Buben als Engel. Es handelt sich dabei um Theo Greil, in dessen Garage das Gemälde für lange Zeit hing.
Rupp hatte allerdings noch etwas in petto, was die Teilnehmer verblüffte. Im "Jüngsten Gericht" über dem Vierungsbogen findet man eine rote Fahne, getragen von der französischen Revolutionsfigur Marianne. Auf der Fahne stehen die Buchstaben LEF - Liberté, Égalité, Fraternité (zu deutsch: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). "Ja, der Jugendstil war eine Art innere Befreiung", sagte Rupp.
22.000 Vertriebene und Ausgebombte fanden in der Pestalozzi-Schule über mehrere Jahre hinweg eine Unterkunft. Viele Juden sind in der Nazizeit aus Hockenheim ins Konzentrationslager Gurs verschleppt worden. Aufgrund dieser beiden Sachverhalte befindet sich auf dem Marktplatz ein Gedenkstein. Und in der Karlsruher Straße steht das Denkmal des heiligen Nepomuk. Warum aber wird er in der Inschrift bloß mit "ck" am Ende geschrieben? Rupp weiß es: weil der Text ein Chronogramm ist. Darin enthalten ist - in großen römischen Buchstaben verschlüsselt - die Jahreszahl seiner Entstehung. Und dem Bildhauer, der die Inschrift in den Stein schlug, fehlte einfach Wissen, das erst hundert Jahre später kam. Ein zusätzliches römisches C (=100) war da noch am ehesten im Namen des Heiligen unterzubringen.
Rund 60 Teilnehmer hatten sich für die historische Stadtführung mit dem Hockenheimer Urgestein angemeldet. Nur 20 Personen konnten letztlich daran teilnehmen - was auch daran lag, dass einige der besuchten Ziele räumlich begrenzt waren. Auch im historischen Gewölbekeller des Güldenen Engels, wo die Führung in gemütlicher Runde nach einer guten Stunde ausklang, wäre es eng geworden. Der anekdotenreiche Stadtrundgang wurde vom Hockenheimer Marketing Verein (HMV) veranstaltet.