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New York: Wie ein deutscher Anschlag die USA in den Ersten Weltkrieg zog

Im Jahr 1916 reißt eine Explosion die Menschen in Manhattan aus dem Schlaf. Fenster zerspringen, die Erde bebt – und eine Nation verliert ihre Unverletzlichkeit. Wie deutsche Spione den ersten Terroranschlag auf amerikanischem Boden verübten. Bastian Brauns berichtet aus New York "Die Insel Manhattan und die umliegenden Gebiete wurden heute früh von zwei gewaltigen Explosionen erschüttert. Fensterscheiben gingen zu Bruch und Gebäude wurden in ihren Grundfesten erschüttert." So ist in der Frühausgabe der "New York Tribune", einer der führenden und einflussreichsten Zeitungen in den Vereinigten Staaten, am 30. Juli 1916 zu lesen. Beschrieben wird in dem Artikel das jähe Ende einer bis dahin ruhigen amerikanischen Sommernacht. Es muss hektisch zugegangen sein in der Redaktion und in den Druckereien: Der eilig zusammengeschusterte Artikel steckt voller Rechtschreibfehler. Der zuständige Setzer muss gleich mehrere Blei-Buchstaben einfach vertauscht oder schlicht fallen gelassen haben. Ganz so, als hätte ihn angesichts dessen, was Amerika schon bald bevorstehen würde, die blanke Panik ergriffen. Begonnen hatte damals im Hochsommer 1916 alles mit einem Rätsel. Mitten in der New Yorker Nacht, um 2.08 Uhr früh, zerreißt ein erster ohrenbetäubender Knall die Stille über Manhattan. Die schockierten Bewohner reißt es aus ihren Betten, ganze Fensterfronten am Times Square zerbersten, und die Gebäude beben. Es folgt eine weitere heftige Explosion. Ein Säugling stirbt, weil die Wucht der Detonationen ihn aus der Wiege schleudert. Der Himmel über Jersey City auf der anderen Uferseite des Hudson River leuchtet glühend rot. Große Flammen schlagen in die Luft. Von der Druckwelle der Explosionen wanken Kronleuchter in Manhattan. In Panik treibt es die Bürger auf die Straßen. Was ist nur geschehen? Viele halten die Erschütterungen zunächst für ein Erdbeben . Zu spüren sind sie sogar bis nach Philadelphia und Maryland im Süden und Boston im Norden. Die New Yorker Polizei erhält zunächst auch Notrufe über angebliche Explosionen aus der Metro. Sie stellen sich als falsch heraus. Während in Europa zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren der brutale Erste Weltkrieg tobt, ist es für die USA mit dieser Nacht tatsächlich ebenfalls vorbei mit dem Frieden. Dabei haben die Amerikaner bis dahin nicht aktiv in den Krieg eingegriffen. Nun aber gibt es plötzlich auch auf US-Boden Tote und viele Verletzte. Die Sachschäden werden auf 45 Millionen Dollar beziffert, was heute rund einer Milliarde Euro entsprechen würde. Es waren die Deutschen Nach der Explosion beginnen die Ermittlungen, schleppen sich aber hin. Schnell ist nur klar: Das war kein Erdbeben. Nur ein Gerücht hält sich hartnäckig: Es waren die Deutschen. Und tatsächlich verdichten sich schließlich immer mehr Hinweise und Zeugenaussagen. Das Deutsche Kaiserreich soll eine Explosion mitten in Amerika herbeigeführt haben, die bis heute als eine der heftigsten nicht nuklearen Detonationen in der Geschichte gilt. Sie soll einem Erdbeben mit einer Stärke von 5,5 auf der Richterskala entsprochen haben. Es ist eine jener kaum bekannten Geschichten, die dennoch Geschichte geschrieben haben. Gleich mehrere Agenten des kaiserlichen Geheimdienstes haben damals im Sommer 1916 im Schutz der Dunkelheit lange vor dem 11. September 2001 einen der schlimmsten Terroranschläge in der amerikanischen Geschichte verübt. Ziel ihrer verdeckten Attacke auf Amerika waren Munitionsdepots auf Black Tom Island in New Jersey, im Hafen von New York . Die USA sollten damit daran gehindert werden, dringend benötigte Waffen für ihre Alliierten nach Europa zu liefern. In den Depots auf Black Tom Island lagerten in Güterwaggons und Lastkränen in dieser Nacht rund 1.000 Tonnen Kleinwaffen und Artilleriemunition und rund 50 Tonnen Sprengstoff TNT. Ziel der Lieferung sollte damals unter anderem Russland sein, das gegen das deutsche Kaiserreich vom Osten her Krieg führte. Heute ist die "Black Tom Explosion" vom 30. Juli 1916 nur wenigen Menschen noch ein Begriff. Tatsächlich aber gilt sie als einer der Hauptgründe für den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg. Zwar dauerte es noch mehr als ein halbes Jahr, bis Präsident Woodrow Wilson am 6. April 1917 dem Deutschen Kaiserreich infolge der erweiterten U-Boot-Angriffe gegen amerikanische Schiffe offiziell den Krieg erklärte. Aber dieser verdeckte, mutmaßliche Angriff der Deutschen auf eigenem Boden erwischt die Amerikaner derart kalt, dass er auch die gesellschaftliche Stimmung in den USA verändert. Die Skepsis gegen einen eigenen Kriegseintritt im fernen Europa weicht einem zunehmenden Hass auf die Deutschen. Denn die Attacke des Kaiserreichs trifft auch das Nationalheiligtum. In der Nacht des 30. Juli 1916 tragen offenbar die deutschstämmigen Saboteure Kurt Jahnke und Lothar Witzke und mutmaßlich auch der österreichische Einwanderer Michael Kristoff den staatlich organisierten Terrorismus mitten ins Herz der stolzen Demokratie. Geleitet wird die Aktion wohl vom kaiserlichen Kapitän Franz von Rintelen. Bis heute ist die Faktenlage zwar nicht eindeutig geklärt. Aber das deutsche Agentennetz löst die Explosionen wohl mit sogenannten "Zigarrenbomben" aus. Für die damalige Zeit sind es hoch entwickelte, unauffällige, mit Zeitzündern versehene Sprengsätze. Sie ermöglichen es den Agenten zu verschwinden, noch bevor sie detonieren. Bei der Sprengung der Munitionsdepots auf Black Tom Island fliegen die Metallsplitter so weit, dass sie mahnend bis heute im Sockel der benachbarten Freiheitsstatue stecken. Und noch etwas beschädigen sie: die Fackel der Freiheit. Geformt aus jenem berühmt grünstichigen Kupfer und gelb gefärbtem Glas erlischt in dieser warmen Sommernacht ihr Licht der Hoffnung für Millionen von Einwanderern und damit auch erstmals die Gewissheit von amerikanischer Unverletzlichkeit. Bis zum Angriff der Deutschen konnten Interessierte nicht nur die Krone der New Yorker Freiheitsstatue besteigen, sondern auch nach oben zur Fackel kraxeln. Diesem besonderen Erlebnis bereiten die Kaiserreichs-Spione bei ihrer Nachtaktion ein Ende. Sie beschädigen die Fackel irreparabel, sodass sie für die Besucher fortan gesperrt bleiben muss. Im Jahr 1984 wird die Metall-Glas-Konstruktion schließlich ersetzt. Heute leuchtet die Fackel der Freiheit zwar wieder, aber lediglich bei Tageslicht, weil sie mit goldener Farbe angemalt ist. Die Original-Fackel thront im benachbarten Besucherzentrum. Schwerwiegende Schwächen Amerikas In der Terrornacht von 1916 stehen die Docks auf der anderen Seite des Hudson River in Flammen. Die Luft ist voll dickem Rauch und beißendem Qualm. Die vielen Folge-Detonationen rollen wie ein entfernter Donner über Manhattan. Die Black-Tom-Explosion ist ein Weckruf, der die Illusion vom Isolationismus endgültig zerstört. Amerika muss reagieren. Die Sabotageakte des Deutschen Kaiserreichs sind Thema im ganzen Land. Sogar von einem "geheimen Krieg" gegen Amerika ist die Rede. Eine erste Maßnahme ist der "Espionage Act" von 1917, ein weitreichendes Gesetz zur Eindämmung von Sabotage und zum Schutz der nationalen Sicherheit. Erst von diesem Zeitpunkt an wird es überhaupt illegal, eigene militärische Operationen zu stören, ausländische Feinde zu unterstützen oder das Rekrutieren von Soldaten zu behindern. Das Gesetz legt den Grundstein für die spätere Mobilmachung der USA und wird zu einem Eckpfeiler der Kriegspolitik. Später kam noch der "Sabotage Act" hinzu. Tatsächlich offenbart der deutsche Terroranschlag auch, wie sehr es den Vereinigten Staaten mitten im Ersten Weltkrieg an einem eigenen koordinierten Nachrichtendienst fehlt. Was heute kaum vorstellbar scheint, entspricht damals der vorherrschenden öffentlichen Meinung. US-Präsident Wilson lehnt eigene Spionage und Gegenspionage darum zunächst sogar noch aus ethischen Gründen ab. Darum laufen die Ermittlungen zur Black-Tom-Explosion auch bei den Beamten des Bombenräumkommandos des New York Police Department. Im Krieg verlassen sich die USA lieber auf die britischen Geheimdienste. Sie sind es, die dann auch weitere deutsche Sabotageversuche offenlegen und dabei unter anderem das sogenannte "Zimmermann-Telegramm" abfangen. Es enthüllt etwa den deutschen Plan, Mexiko als Verbündeten gegen die USA zu gewinnen, was Präsident Wilson dann doch erzürnt. Schutzlos gegen Spionage 1917 gründen die USA dann schließlich ihre erste Funkaufklärungseinheit, den MI-8, der nach dem Krieg in "Black Chamber" umbenannt wird. Der spätere Präsident Herbert Hoover löst die Abteilung aber wieder auf, erneut aus ethischen Gründen auf. Sein Außenminister Henry Stimson drückt es damals mit den Worten aus: "Gentlemen do not read each other's mail" ("Ehrenmänner lesen nicht die Briefe des anderen"). Trotz der schwerwiegenden Attacken der Deutschen scheitern damit die ersten Versuche, mögliche US-Geheimdienstaktivitäten zu koordinieren. Es fehlt an Erfahrung, Willen, Führung und mangelnder Zusammenarbeit der beteiligten Behörden. Zu sehr widerspricht das Spitzeln dem Gründungsgedanken Amerikas. Auch deshalb scheinen die deutschen Agenten, die für die Black-Tom-Explosion verantwortlich sein sollen, niemandem aufgefallen zu sein. Einer von ihnen ist Kurt Jahnke. Er war schon 1899 in die Vereinigten Staaten emigriert und ließ sich schließlich einbürgern. Er trat der US-Marine bei, mit der er auf den Philippinen stationiert wurde. Jahnke arbeitete als Privatdetektiv, aber auch für den US-Grenzschutz sowie für den Secret Service. Dabei soll er Opium und Zigaretten geschmuggelt haben. Zudem soll Jahnke ein lukratives Geschäft betrieben haben: Er organisierte den Transport von in den Vereinigten Staaten verstorbenen Chinesen in luftdichten Zinksärgen in ihre Heimat. Von seiner Rolle als deutscher Agent für den "Etappendienst" der kaiserlichen Marine aber wusste offenkundig niemand. Als die Vereinigten Staaten Deutschland am 6. April 1917 schließlich den Krieg erklären, kann Kurt Jahnke darum auch, ohne vorher festgenommen worden zu sein, seine Aktivitäten auch nach Mexiko-Stadt verlegen. Aus späteren Anhörungen im US-Senat geht hervor, dass er dort Pläne schmiedet, um Mexiko doch noch in einen Krieg gegen Amerika zu verwickeln. Das Deutsche Kaiserreich will damals unter anderem eine mexikanische Armee von mehr als 40.000 Soldaten finanzieren, um diese gegen die USA marschieren zu lassen. Außerdem soll dabei auch die sozial stark benachteiligte, schwarze US-Bevölkerung zum Bürgerkrieg ermuntert werden. Ein Todesurteil und eine merkwürdige Rehabilitierung Und so kommt es, dass nicht die USA ihren eigenen Landsmann wegen Hochverrats bestrafen können – und erst recht nicht wegen der zerstörten Fackel an der Freiheitsstatue. Kurt Jahnke spioniert später weiter, und zwar im Auftrag Hitlers und des Deutschen Reiches. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs soll er eigens sogar einen Spionagering um Josef Stalin aufgebaut haben. Als Gefangener der Sowjetunion wird er wegen seiner Aktivitäten als "Berufsaufklärer" im Jahr 1950 von einem Militärtribunal zum Tode durch Erschießen verurteilt und umgehend hingerichtet. Fast skurril mutet in dem Zusammenhang an: Ausgerechnet unter Wladimir Putins erster Präsidentschaft wird Kurt Jahnke im Jahr 2002 posthum in Russland wie Zehntausende andere Deutsche rehabilitiert im Rahmen des "Gesetzes über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen". Ob Putin als früherer KGB-Agent für Jahnke im Speziellen womöglich so etwas wie Bewunderung verspürt hat, ist nicht bekannt. Klar ist, mit seinen Aktionen schadeten Jahnke und sein mutmaßliches Agententeam schon vor mehr als hundert Jahren dem späteren Erzfeind der Russen – auch wenn die USA damals noch die Verbündeten des russischen Zarenreiches waren.

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