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Alles begann in Helenendorf: Eine russlanddeutsche Familiengeschichte

Elsa Strasser (hinten, 2.v.l.) an ihrem 13. Geburtstag, direkt davor sitzt ihre Mutter Marta (Foto: Privat)

Meine Großeltern väterlicherseits sind sogenannte Russlanddeutsche. Rein geografisch trifft diese Bezeichnung mehr auf meinen Großvater Friedrich Steinmetz zu, der 1926 tatsächlich in Südrussland zur Welt kam. Über seine Frau, meine Oma Elsa, würde man in ihrem Geburtsort heute eher sagen, sie sei eine Aserbaidschandeutsche gewesen.

Elsa stammte aus Helenendorf, der ersten deutschen Kolonie in Aserbaidschan. Ihr Ururgroßvater und mein Ururururgroßvater Johann Gottfried Strasser gehörte 1819 zu den Gründern der Siedlung.

Wer war dieser Johann Gottfried, geboren am 14. Februar 1791 in Rosenfeld südwestlich von Stuttgart? Warum begab er sich mit 27 Jahren auf die Suche nach einer neuen Heimat? Höchstwahrscheinlich trieben ihn Missernten und Hunger, unter denen das Königreich Württemberg damals litt, aus dem Land. Die auswanderungswilligen Schwaben wandten sich an den russischen Zaren Alexander I., dessen Mutter Sophie Dorothee selbst Württembergerin war. Den Schritt ins Unbekannte wagten hauptsächlich Landwirte und Handwerker. Auf Einladung des Zaren siedelten sie sich zwischen 1817 und 1819 im Kaukasus an.

Ein Dorf mit Strom und Telefon

Von den 700 schwäbischen Familien, die sich von Ulm aus auf den Weg in den Osten machten, erreichten nur etwa 400 das ursprüngliche Ziel. Einige Auswanderer starben unterwegs an Krankheiten, andere verblieben in der Schwarzmeerregion. 130 Familien gründeten 1819 am Fuße des Kleinen Kaukasus, in der Nähe der alten Handelsstadt Gandscha, Helenendorf. Die deutsche Siedlung erhielt ihren Namen zu Ehren der Schwester von Alexander I., Großfürstin Helena Pawlowna, Herzogin von Mecklenburg-Schwerin.

Die Schwaben waren fleißig. Als Spezialisten für Ackerbau und Viehzucht machten sie die Kolonie schnell wirtschaftlich stark. Sie hatten ihre Schmiede, Tischler, Wagner für Fuhrwerke aus Holz, Schuhmacher und Schneider. Zu besonderer Produktivität brachten es die Deutschen beim Weinanbau. Ihre Weine wurden Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Moskau und St. Petersburg gehandelt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung stieg der Wohlstand: 1912 bekam Helenendorf als erstes Dorf im Kaukasus Strom, vier Jahre später ein funktionierendes Telefonnetz.

Als meine Oma am 9. August 1927 geboren wurde, waren Aserbaidschan und Helenendorf bereits sowjetisch. Elsa Strasser hatte zwei ältere Schwestern, Nelli und Ida. Ihren Vater Eduard verloren sie früh: Er wurde bei einem der Proteste gegen die Zwangskollektivierung im März 1930 erschossen.

Aus der Heimat in die Fremde

Ganze drei Familienfotos aus Helenendorf sind erhalten geblieben. Aber bei allem, was die Familie durchgemacht hat, muss es wohl eher heißen: immerhin drei Fotos. Eines der Bilder ist mit „Chanlar 9.8.40“ beschriftet. Chanlar war ab 1938 der neue Name der deutschen Kolonie. An jenem 9. August 1940 feierte Oma Elsa ihren 13. Geburtstag. Auf dem Bild schaut sie verträumt. Sie weiß noch nicht, dass ihr Leben im darauffolgenden Jahr komplett auf den Kopf gestellt wird. Zusammen mit ihrer Mutter Marta und ihren beiden Schwestern muss sie ihren Heimatort im Oktober 1941 verlassen und kehrt nie wieder dorthin zurück.

Verdächtigt der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland, das am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, wurden Deutsche aus allen Landesteilen weit nach Osten deportiert. Die rund 23 000 verbliebenen Nachfahren der deutschen Siedler in Aserbaidschan fanden sich in Zentralasien wieder. Viele starben in Arbeitslagern und Sondersiedlungen.

Zwangsarbeit im Forst und im Schacht

Für Marta Strasser und ihre drei Töchter sowie zahlreiche andere deutsche Familien aus Chanlar ging es zunächst auf Lastwagen nach Gandscha, dann mit der Eisenbahn nach Baku, von dort per Schiff über das Kaspische Meer nach Krasnowodsk (heute Turkmenbaschi) in Turkmenistan. Hier nahm eine wochenlange Eisenbahnfahrt in Viehwaggons nach Kasachstan ihren Anfang. Nichts, was man sich mit 14 Jahren – oder in jedem beliebigen Alter – wünscht.

Die Elsa auf dem Bild von ihrem Geburtstag ahnt nicht, dass sie, ein halbes Kind noch, bald schon zur Zwangsarbeit in der Arbeitsarmee herangezogen wird: zunächst in den Wäldern der Komi-Republik am Ural, dann in den Kohlengruben bei Karaganda in Kasachstan. Das alles unter extremen Bedingungen, mit strengen Meldepflichten und Ausgangsbeschränkungen. In Karaganda begegnet Elsa Strasser dem aus Südrussland deportierten Friedrich Steinmetz und gründet mit ihm 1950 eine Familie. Nun heißt sie Steinmetz. Diesen Namen trage auch ich. Ich bin die fünfte Enkeltochter von Elsa, von insgesamt zehn.

Das Haus in der Gartenstraße

Ich war 16, als meine Familie 1996 aus Kasachstan nach Deutschland ausreiste. Oma Elsa und Opa Friedrich waren schon 1994 dorthin umgesiedelt. Und erst als sie in Deutschland waren, erfuhr ich, dass sie Deutsch können: Opa Plattdeutsch, Oma gutes Hochdeutsch. Wie tief mussten ihre Wunden gewesen sein, dass meine Großeltern ihr Deutschsein sogar vor uns, ihren Enkelkindern, verheimlicht hatten! Dass unser Nachname deutsch war, hatte uns nie zu denken gegeben, denn in Kasachstan gab es viele davon.

Oma fiel es sichtlich schwer, von ihrer Kindheit in Helenendorf zu erzählen. Kakao gab es dort zum Frühstück, daran erinnerte sie sich gern. Deswegen hatte Helenendorf in meiner Vorstellung etwas Märchenhaftes an sich. Aber irgendwann wollte ich es genauer wissen. Und nun hat sich endlich der lange gehegte Wunsch erfüllt, mit eigenen Augen den Ort zu sehen, wo meine Oma geboren und aufgewachsen ist. Anfang Oktober stand ich vor ihrem ehemaligen Haus in der Gartenstraße 78, heute Rasulzade 70. Ich sah den Bewässerungsgraben, Aryk, auf ihrer Straße, von dem Oma erzählt hatte. Das frühere Helenendorf und spätere Chanlar heißt jetzt Göygöl.

Ich war im Haus von Viktor Klein, dem letzten Nachfahren der schwäbischen Kolonisten, der zusammen mit seiner Mutter alles Deutsche gesammelt hat, was nur ging. Als Sohn aus einer gemischten Ehe – deutsche Mutter, polnischer Vater – durfte Viktor Klein 1941 in Chanlar bleiben. Er starb 2007. Sein Haus samt Einrichtung hat er der deutschen Botschaft in Baku vermacht. Heute ist es ein Museum. Die alten Möbel, Bücher, Fotos, Küchenutensilien, der riesige Kellerraum und der große alte Feigenbaum im Hof vermitteln einen ungefähren Eindruck davon, wie es auch bei meiner Oma zu Hause ausgesehen haben könnte.

Die weißen Flecken

Im heutigen Göygöl ist das alte Helenendorf noch zu erahnen. (Foto: Lena Steinmetz)

Dass Oma nach ihrer Zwangsumsiedlung nicht mehr an diesem Ort war, erkläre ich mir damit, dass der Schmerz wohl zu groß gewesen sein muss. In unserer Familiengeschichte gibt es weiterhin viele weiße Flecken. Ich weiß nicht, welchen Beruf mein Urgroßvater Eduard Strasser ausgeübt hat oder wer die anderen Strassers in Helenendorf waren. Auf dem Stadtplan von 1941 sind diesem Nachnamen mehrere Häuser zugeordnet.

Oma kann ich nicht mehr fragen. Sie starb 2001. Ich weiß nicht, warum sie mit 16 Jahren von ihrer Mutter und ihren Schwestern getrennt wurde und allein in die Arbeitsarmee musste. Ich weiß nicht, wovon Elsa als Kind träumte und was sie sich an ihrem 13. Geburtstag wünschte. Als ich durch die Straßen des einstigen Helenendorfs lief, wünschte ich mir, dass sie sich dort, wo sie ist, freut.

Запись Alles begann in Helenendorf: Eine russlanddeutsche Familiengeschichte впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.

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