Dissidenten zahlten für ihren Widerstand gegen das System einen hohen Preis. Und bei aller Standhaftigkeit kamen sie nicht umhin, Kompromisse einzugehen, sich in gewissem Maße mit den sowjetischen Verhältnissen zu arrangieren. Wie viel Selbsterhaltungstrieb und schierer Realitätssinn noch mit dem Gewissen zu vereinbaren waren, darüber wurde teils erbittert gestritten. Der Schriftsteller Wladimir Wojnowitsch erzählt davon in seinem 2002 erschienenen Buch „Porträt vor dem Hintergrund eines Mythos“. Es ist vor allem eine Abrechnung mit Alexander Solschenizyn („Der Archipel Gulag“), für den Wojnowitsch 1973 Partei ergriff, als dieser nach Westdeutschland abgeschoben wurde, und von dem er später zunehmend enttäuscht war. Das Buch beleuchtet aber auch die Dissidentenszene der 1970er Jahre. Ein Auszug.
Einmal, es war 1973, fuhr ich mit meinem gerade erst gekauften Schiguli raus zum Dichter Naum Korschawin. Er hatte kurz davor eine Wohnung irgendwo im Südwesten bekommen, in einem Neubaugebiet, und wollte sie schon wieder loswerden. Denn seine Ausreise nach Amerika war beschlossene Sache.
An jenem Abend trafen sich in der Küche von Ema (so nannten wir ihn, mit einem m) vergleichsweise junge Aufmüpfige. Einige hatten schon von sich reden gemacht, indem sie sich für jemanden eingesetzt und in Briefen an die sowjetischen Machthaber kein Blatt vor den Mund genommen hatten, indem sie Untergrundliteratur verbreiteten und Verfolgung ausgesetzt waren. Der eine oder andere war aus der Partei ausgeschlossen worden oder hatte seine Arbeit verloren.
Und eine aus dieser Truppe war schon eine allseits anerkannte Heldin: Sie hatte ihre erste Haftstrafe abgesessen und sah ihrer zweiten entgegen. Deshalb lauschten jene Gäste, die noch nie Gefängnissuppe gelöffelt hatten, ihren flammenden Reden aufmerksam und ehrfürchtig, wobei sie allerdings mit größter Inbrunst den größten Blödsinn von sich gab.
Ich habe bereits über sie geschrieben, aber nur vom Anfang unserer Unterhaltung berichtet, als wir zu Ereignissen, die ein Jahrhundert zurücklagen, sehr unterschiedliche Ansichten hatten. Es ging, warum auch immer, um die Narodowolzy (geheime revolutionäre Bewegung, die 1881 ein tödliches Attentat auf Zar Alexander II. verübte – d. Red.). Und diese Dame rief auf einmal erregt: „Ach, diese Narodowolzy! Ach, die Perowskaja! Wenn ich damals gelebt hätte, dann hätte ich sie eigenhändig erwürgt.“
An der Stelle konnte ich nicht mehr an mich halten und ergriff das Wort. Schließlich hatte ich ein ganzes Buch über die Narodowolzy geschrieben und fand, dass sie viel gemeinsam hatten mit den Dissidenten unserer Zeit. „Sie reden sich um Kopf und Kragen“, sagte ich. „Die Perowskaja hätten Sie nicht erwürgt.“
Daraufhin ereiferte sich die Frau noch mehr. „Ich? Sie? Dieses Miststück? Das die Bombe auf Väterchen Zar … So wahr ich hier stehe, die hätte ich erwürgt, ohne zu zögern.“
„Was Sie nicht sagen“, entgegnete ich. „Da kennen Sie sich aber schlecht. Damals hätten sie Perowskaja nicht nur nicht gewürgt, sondern ihr im Gegenteil auch noch geholfen, die Bombe auf den Zaren zu werfen.“ Sie hatte alles erwartet, nur das nicht. „Ich? Auf Väterchen Zar? Eine Bombe? Wissen Sie überhaupt, dass ich eine überzeugte Monarchistin bin?“
„Ich sehe, dass Sie eine überzeugte Monarchistin sind. Weil es heute Mode ist, eine überzeugte Monarchistin zu sein. Damals war es Mode, eine Bombe auf den Zaren zu werfen. Mit Ihrem Charakter wären sie prädestiniert dafür gewesen, unter den Bombenwerfen zu sein.“
Bald darauf brach ich auf und man bat mich, die Monarchistin wenigstens bis zur Metro mitzunehmen. Sie setzte sich auf die Rückbank und wir fuhren los. Es war Februar: Eiseskälte, Schneetreiben, Glätte. Zwischen dem Neubaugebiet und der Stadt lag ein endloses Nichts. Vor und hinter uns, rechts und links waren weder Lichter noch Autos, Menschen oder Hunde zu sehen. Sogar die Straße verschwand immer wieder unter dem Schnee.
Inmitten dieser Finsternis war es in meinem Schiguli warm und gemütlich. Die Anzeigen schimmerten friedlich, begleitet von leiser Musik. Meine Passagierin hatte sich hinten aufgewärmt und offenbar ein Nickerchen gemacht. Als sie wieder aufgewacht war und sich gestreckt hatte, fragte sie mit schläfriger und einschmeichelnder Stimme: „Sagen Sie mal, was hat Sie dieses Auto eigentlich gekostet?“ Ich tat so, als verstünde ich die Anspielung nicht. „Das Auto hat fünfeinhalbtausend Rubel gekostet.“ Nein, das habe sie nicht gemeint, sagte sie, woran ich auch nicht gezweifelt hatte. „Die Frage war, welchen Preis Sie mit Ihrem Gewissen dafür gezahlt haben.“
Ich bremste vorsichtig, ohne die Kupplung durchzudrücken. Das Auto schlitterte anderthalb Meter vorwärts, bevor es zum Stehen kam, weil ein Rad von einem eingefrorenen Ziegelstein gestoppt wurde. „Sie können jetzt aussteigen“, sagte ich, „um nicht mit Ihrem Gewissen für diese Fahrt zu bezahlen“. Sie zahle mit Geld, antwortete sie und es hatte den Anschein, als wühle sie in ihrer Brieftasche. „Nein, nein“, widersprach ich. „Geld nehmen wir nicht, nur Gewissen.“
Sie verstummte, fragte dann unsicher: „Ist es noch weit bis zur Metro?“ Ich sagte, ich hätte keine Ahnung. Aber sie könne ja aussteigen und fragen, wenn sie denn jemanden finde. Sie saß da, schwieg und hatte es nicht eilig, das Auto zu verlassen. Natürlich hätte ich ihr noch weiter zusetzen können, aber ich dachte mir: Was, wenn sie beleidigt ist und tatsächlich aus dem Auto springt? Ich kann sie schließlich nicht einfach hier zurücklassen und müsste in dieser Ödnis hinter ihr herlaufen. „Also gut“, erbarmte ich mich, „fahren wir weiter“.
Aber um ehrlich zu sein, habe ich solchen Anwürfen nicht immer dermaßen entschlossen die Stirn geboten. Nicht immer war ich couragiert genug. Ungefähr drei Jahre zuvor – im Juli 1970, um genau zu sein – rief mich Pjotr Jakir an. Witzelnd, indem er Stalins georgischen Akzent nachahmte, sagte er: „Hör mal, es kommt jetzt ain sehr gute Mädchen mit ain sehr wichtige Papier zu dir. Alles Weitere erklärt sie dir selbst.“
In jenen Tagen herrschte in Moskau eine unerträgliche Hitze. Aus der Provinz war meine Mutter zu uns gestoßen. Die Ärzte hatten in ihrem Bauch eine riesige Geschwulst entdeckt und vermuteten, dass es Krebs im Endstadium ist und wohl inoperabel. Mama wurde von Papa und meiner Schwester Faina begleitet. Zu fünft (noch ich und meine Frau) hockten wir in unserer damaligen Einzimmerwohnung im Dachgeschoss unter dem aufgeheizten Dach. Wir schwitzten vor uns hin und vergingen vor Ungewissheit und all dem Elend, das auf uns eingestürzt war.
Ich sollte damals wieder einmal aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen werden. Die Vorbereitungen zu meinem „persönlichen Fall“ liefen bereits. Nichtsdestotrotz hatte der meinen Lesern bereits bekannte Verbands-Funktionär Viktor Nikolajewitsch Iljin zugesagt, einen offiziellen Brief aufzusetzen, damit meine Mutter trotz ihres auswärtigen Wohnsitzes und der fehlenden Moskauer Anmeldung im Krankenhaus des Eisenbahnministeriums aufgenommen würde. Dort wollte man sie kurzfristig und auf hoher Ebene untersuchen.
Wir sitzen also zu fünft unter dem Dach, schweißgebadet und bedrückt, als „ain Mädchen“ auftaucht. Sie ist um die 20, die Tochter eines namhaften Akademiemitglieds. Und eine feurige Dissidentin. Sie möchte, dass ich einen Aufruf unterzeichne. Ich kann nicht einfach Nein sagen, also versuche ich, ihr meine Lage zu erklären. Wissen Sie, meine Mutter … Sie muss ins Krankenhaus … Ich warte auf ein Papier … Und wenn mein Name heute erneut in der BBC oder bei Voice of America verlesen wird, dann kann ich das Papier abschreiben.
Ich erinnere mich noch genau, wie diese leidenschaftliche Revolutionärin mich mit Verachtung strafte, wie mich, während sie zur Tür zurückwich, ihre schwarzen Augen durchbohrten. „Ach, man gibt Ihnen das Papier nicht? Leute gehen zugrunde und Sie bekommen ein Papier nicht! Schämen Sie sich denn gar nicht?“
Ich weiß noch, dass ich mich geschämt habe. Mit gesenktem Blick habe ich etwas gestammelt. Und jedes Mal, wenn ich an diese Geschichte zurückdenke, schäme ich mich von neuem. Ich schäme mich, dass ich mich damals geschämt habe, ich schäme mich vor mir selbst und meiner verstorbenen Mutter, dass ich diese feurige Dummschwätzerin nicht am Kragen gepackt und die Treppe hinuntergestoßen habe.
Übersetzung aus dem Russischen: Tino Künzel
Запись Vernunft oder Verrat? Erinnerungen an Dispute unter Dissidenten впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.